Ein Rebell in Bengasi schwenkt die libysche Flagge aus den Zeiten vor Gaddafis Machtergreifung.

Feuerprobe für die Moral

Am 18. März, nur wenige Stunden nachdem die UNO für einen Militäreinsatz gegen das libysche Regime stimmte, kündigte dieses einen Waffenstillstand an. Diese Entscheidung wird vielleicht eine Situation vereinfachen, die die europäische Presse als riskant einstufte, obwohl sie einen eventuellen Krieg befürwortet.

Veröffentlicht am 18 März 2011 um 15:22
Ein Rebell in Bengasi schwenkt die libysche Flagge aus den Zeiten vor Gaddafis Machtergreifung.

„Endlich. Es ist der internationalen Gemeinschaft – die ausnahmsweise einmal ihren Namen zu Recht trägt – gelungen, zu einer klaren Position bezüglich Libyens zu gelangen“, freut sich Libération. Für die französische Tageszeitung „hat sich die diplomatische Forcierung durch die französische Regierung ausgezahlt. Nachdem Frankreich vor zwei Tagen scheinbar noch mit Großbritannien alleine stand, ist es ihm letztendlich gelungen, vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution verabschieden zu lassen, die die Mitgliedsstaaten dazu ermächtigt, ‚alle nötigen Maßnahmen zu treffen, [...] um die Zivilbevölkerung und die von der Zivilbevölkerung bewohnten Gebiete vor drohenden Angriffen’ von Seiten des libyschen Regimes zu schützen.“ Es setzte also seinen Willen durch, Gaddafis Flugverkehr lahmzulegen, um die Niederschlagung der Aufständischen zu verhindern.

Für die französische Presse kommt der Verdienst für diese Abstimmung vor allem Nicolas Sarkozy zu. „Von der tunesischen Revolution auf dem falschen Fuß erwischt, durch Mubaraks Sturz verhuscht, ist Paris nun in der Akte Libyen der Vorreiter“, meint Libération. „Nicolas Sarkozy hat schnell das Ausmaß der Tragödie erfasst und darin eine Gelegenheit gesehen, eine ähnliche Rolle zu spielen wie in der Georgienkrise im August 2008, als er den Vorsitz der EU führte.“ „Unser Land hat seine Rolle voll ausgefüllt, indem es die internationale Gemeinschaft mobilisiert und die Vereinigten Staaten aus ihrer Benommenheit gerissen hat“, heißt es im Figaro. „Als Großmacht im Mittelmeerraum ist Frankreich es sich schuldig, zur Rettung des arabischen Frühlings beizutragen.“

„Das Erbe des Iraks schwebt über jeder Handlung“

„Es ist bittere Ironie, dass der Jahrestag des Beginns des Irakkriegs ausgerechnet auf dieses Wochenende fällt“, erinnert The Independent. „Acht Jahre nach den Kämpfen in Bagdad und Basra hat der UN-Sicherheitsrat die Einrichtung einer Flugverbotszone in einem anderen arabischen Land erlaubt. Das Erbe des Iraks schwebt über jeder Handlung.“

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Doch Gaddafi gegenüber konnte sich die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäer, eine Tatenlosigkeit nicht erlauben. „Ein Gewehr oder sogar ein Seil genügt, um die Menschen zu töten, deren lächelnde Gesichter wir auf den Titelseiten der Zeitungen und im Fernsehen sehen“, schreibt die Rzeczpospolita ergriffen. „Hoffen wir, dass die Welt nicht zu spät handelt. Hoffen wir, dass sie ein neues Ruanda verhindern kann.“

In der Tat, so Le Figaro, „muss in Bengasi für alle die Moral im Vordergrund stehen. Die von den Vereinten Nationen 2005 verabschiedete ‚Schutzpflicht’ für bedrohte Zivilbevölkerungen, die eine Lehre aus Ruanda und Bosnien sein soll, kann keine offensichtlichere Anwendung finden. Das ist nicht nur eine Frage des Altruismus. Der ‚Realismus’, der manchmal der Moral entgegengesetzt wird, steht in diesem Fall auf derselben Seite.“

The Timeserklärt, prosaischer, dass wir „nicht in Ruanda oder in Darfur [sind], wo wir Hunderttausende ermorden lassen konnten und sich dies allein auf unser Gewissen auswirkte. Was in Libyen abläuft, nähert sich in vieler Hinsicht eher an Bosnien, wo unsere Interessen weit stärker auf dem Spiel standen.“

Doch so viel Zeit wurde verloren, bis es dazu kam, bedauert Le Temps. „Kostbare Zeit wurde mit diplomatischer Gestikulierung vergeudet“, beschwert sich die Schweizer Tageszeitung. „So sieht also unsere Welt der ‚Soft Governance’ nach dem Kalten Krieg und nach der großen amerikanischen Lüge im Irak aus. Keine Regierung traut sich mehr ‚im alten Stil’ einzugreifen und ein paar Geheimagenten im Busch oder in der Wüste abzuwerfen, um heimlich eine Guerilla oder eine Freiheitsbewegung zu unterstützen. Die politische Korrektheit hat die Geopolitik erreicht. Die Legalität hat die Gerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt.“

Wenn Gaddafi bleibt: eine Demütigung für den Westen

Und jetzt? „Die Erhaltung Gaddafis an der Macht wäre eine Demütigung für alle westlichen Spitzenpolitiker, die seinen Untergang wollten“, warnt Le Figaro. „Täuschen wir uns nicht. Bengasi retten, das heißt Krieg.“ Indem es am 18. März einen Stopp seiner Militäreinsätze ankündigte, hat das libysche Regime die Lage vielleicht geändert. Doch sollte es dennoch versuchen, den um Bengasi konzentrierten Aufstand niederzuschlagen, dann stünde die internationale Gemeinschaft wieder einem Militäreinsatz gegenüber, der sich als „riskant“ ankündigt, wie De Standaard meint.

Was tun wir, falls die Lufteinsätze misslingen, fragt die belgische Tageszeitung. „Setzen wir Fuß auf libyschen Boden? Und wenn Gaddafi seine Flugabwehr und seine Panzer in bewohnten Gebieten einsetzt und bei Bombenangriffen Zivilisten umkommen? Sind wir dann überrascht, wenn wir des Neokolonialismus bezichtigt werden, während die arabischen Länder stolz darauf sind, sich selbst zu befreien?“

„Vom moralischen Standpunkt her können wir die Resolution der UNO nur unterstützen“, gibt De Standaard zu. Doch ist die Flugverbotszone die richtige Lösung? „Seit dem Irak wissen wir, dass Krieg vom ersten Tag an unvorhersehbar ist und nicht zur Demokratie führt. Es ist zwar kein Einmarsch, doch wie es das Beispiel des Kosovo von 1999 zeigt, kann es lange dauern, bis ein Diktator seine Meinung ändert.“ (pl-m)

Europäische Union

Cameron und Sarkozy, die Generäle der EU

Mit einem David Cameron, der „eine 180-Grad-Wende zum Interventionismus hin vollzogen hat“, und einem Nicolas Sarkozy, der innerhalb weniger Tage „von Null auf Unendlich“ ging, verfügt die EU über eine „französisch-britische Achse, [die] den Oberbefehl über die europäische Sicherheit anstrebt“, stellt José Ignacio Torreblanca in El País fest.

Die anderen Europäer, insbesondere Deutschland, Spanien und Italien, die gegen ein Eingreifen in Libyen waren, sind nun mit einem Dilemma konfrontiert, analysiert die Tageszeitung aus Madrid: „die Kompromisse respektieren [ein Eingreifen, aber nach einer Abstimmung der UNO] oder die eventuellen Militäreinsätze in den Händen dieses französisch-britischen Minidirektoriums lassen“. Ein Sieg des libyschen Diktators wäre für die EU schwer zu ertragen, warnt El País weiter. „Es wäre eine dreifache Demütigung “, aufgrund „ihrer anfänglichen Passivität, der von ihr gezeigten Spaltungen“ und „weil sie dann mit der konstanten Energie- und Migrationserpressung leben müsste, der Gaddafi sie aussetzen würde“.

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