Europäer der Zukunft. Die Jedward Twins (Irland) gingen am 12. Mai im Halbfinale in Düsseldorf für Irland ins Rennen.

Eurovision – Europa von morgen

Der am 14. Mai stattfindende und in Westeuropa oft als Veranstaltung zweiter Klasse betrachtete Eurovision Song Contest begeistert die Forscher, die anhand des populären Wettbewerbs das „neue Europa“ entschlüsseln.

Veröffentlicht am 13 Mai 2011 um 14:06
Europäer der Zukunft. Die Jedward Twins (Irland) gingen am 12. Mai im Halbfinale in Düsseldorf für Irland ins Rennen.

Eine zunehmende Anzahl von Wissenschaftlern betrachtet Waterloo als ein Schlüsselereignis für Europa. Das Lied Waterloo, nicht die Schlacht.

Der ABBA-Hit ging um die ganze Welt, nachdem die schwedische Band 1974 den Eurovision Song Contest gewann, einen TV-Wettbewerb, bei welchem auch Olivia Newton-John, Julio Iglesias, Céline Dion und das Lied „Nel blu dipinto di blu“ [besser bekannt als „Volare“] ihren großen Bühnenstart hatten.

Jedes Jahr im Mai schicken rund 40 Länder von Island bis Aserbaidschan ihre Bands zum berühmten Contest, der erstmals 1956 über die Bildschirme lief. Heute sehen über 125 Millionen Zuschauer live zu und können per Telefon für ihre Lieblingsnummer stimmen.

Die stilweisenden Tonangeber verziehen jedoch das Gesicht: Der Eurovision-Contest wird regelmäßig in der Luft zerrissen – er wurde schon alles mögliche geschimpft, vom niveau- und einfallslosen Pop-Gedöns bis zum tuntigen Trara. 1998 war der Sieger ein israelischer Transsexueller namens Dana International mit dem Titel „Diva“. 2006 gewann Lordi, eine finnische Heavy-Metal-Band, deren als Monster aufgetakelte Mitglieder „Hard Rock Halleluja“ sangen. Der irische Kandidat für 2008 war eine Handpuppe in Form eines Truthahns.

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125 Millionen Zuschauer können nicht irren

Doch 125 Millionen Eurovision-Fans können nicht irren, meint eine neue Strömung unter den Akademikern. Anstatt sich auf die musikalischen Werte zu konzentrieren, untersuchen sie Themen wie das „europäische Gemeinschaftskonzept“, die Siege „kultureller Randnationen“ und eine „paneuropäische Identität“, die durch das Verbot, für das eigene Land zu stimmen, gefördert werde.

Terry Wogan, der 37 Jahre lang die Eurovision-Sendungen in Großbritannien präsentierte, gehört zu den Skeptikern. „Es ist ein Singwettbewerb“, erklärte er 2009 vor Mitgliedern der Europäischen Rundfunkunion (ERU), die das Event organisiert. Es „geht hier nicht darum, seinen Platz in der [Europäischen] Gemeinschaft zu behaupten“.

In den letzten Jahren begannen Dutzende von Wissenschaftlern in so fernen Gefilden wie der Georgetown University und der New York University in Abu Dhabi damit, die Eurovision zu analysieren. Sie halten Symposien ab und veröffentlichen wissenschaftliche Schriften im European Journal of Political Economy oder im Journal of Queer Studies in Finnland.

„Die Zweiheit des barbarischen Ostens und des zivilisierten Westens“

Um diese Eurovisionäre miteinander zu vernetzen, gründete die Amerikanerin Karen Fricker zusammen mit Milija Gluhovic, einer Theaterdozentin an der Universität im britischen Warwick, 2009 das Eurovision Research Network, dessen Website derzeit knapp 90 Mitglieder auflistet. Während des letztjährigen Eurovision-Contests in Norwegen hielt die Gruppe unter dem Titel „Richtungsweisung für Eurovisionsstudien“ ein eintägiges Seminar an der Universität Oslo ab.

Einer der Vorträge behandelte Fallstudien über Kandidaten aus ehemaligen Ostblockländern, wo der Wettbewerb als Zeichen der Integration mit Westeuropa betrachtet wird. Professor Gluhovic und Frau Fricker erhielten im Juli über 50.000 US Dollar von der britischen Regierung: für eine Reihe von Tagungen, die dieses Jahr unter dem Thema „Eurovision und das ‚Neue’ Europa“ stattfinden sollen.

Der erste Workshop, „Europäische Margen und multiple Modernitäten “ wurde am 18. Februar in der Nähe von London organisiert. „Die Zweiheit des barbarischen Ostens und des zivilisierten Westens im europäischen öffentlichen Leben von heute“ wurde dabei untersucht, wie aus der Inhaltsangabe zu ersehen ist. Der zweite Workshop mit dem Titel „Schwulifizierung Europas“ [Queering Europe] soll sich auf die Gender-Thematik konzentrieren, sowie auf die Verbindungen zwischen Eurovision und Schwulenszene, ist der Contest doch bei letzterer außerordentlich beliebt.

Der Wettstreit entstand 1955 als ein Mittel, alte Rivalen anhand neuer Technologien miteinander zu verbinden. ERU-Vertreter aus 23 westeuropäischen Ländern einigten sich in Monaco darauf, eine internationale Talentshow live auszustrahlen – damals eine anspruchsvolle Zielsetzung. Der erste Contest fand im schweizerischen Lugano statt und es traten nur Kandidaten aus sieben Staaten an.

„Sogar die Weißrussen können sagen, dass sie dazugehören“

Vor zehn Jahren ließen zwei amerikanische Wissenschaftler die Frage wieder aufleben. Ivan Raykoff, Assistenzprofessor für Kunst an der New School in New York, und Robert Tobin, Professor für Sprachen und Kultur an der Clark University in Worcester, Massachusetts, interessierten sich beide für den Sieg von Dana International. Obwohl der Eurovision-Contest in den USA nie ausgestrahlt wurde, schrieben beide wissenschaftliche Abhandlungen darüber und diskutierten das Thema auf internationalen Tagungen. Zum 50. Jahrestag des Wettbewerbs riefen sie im Internet zu wissenschaftlicher Forschung diesbezüglich auf.

„Wir erhielten eine Flut von Arbeiten“, erinnert sich Raykoff. Das daraus entstandene, 2007 veröffentlichte Buch „A Song for Europe“ [Ein Lied für Europa] wurde als „die erste interdisziplinäre wissenschaftliche Studie“ über die Eurovision angekündigt.

Zu den Autoren gehören etwa Lutgard Mutsaers, die erklärt, wie die Niederlande 1964 mit dem ersten farbigen Kandidaten die Rassenbarrieren durchbrachen, und Professor Alf Björnberg, der sich mit denjenigen Künstlern befasste, die ausdrücklich ihre ethnische Zugehörigkeit betonten. Nur wenige Beiträge stammen aus westeuropäischen Ländern, wo der Eurovision-Contest seinen Ursprung hat und heute von den Intellektuellen verschmäht wird. Robert Tobin nennt ihn „ein Barometer der Grenzen Europas“, weil er mehr Länder einschließt als die EU oder die NATO. „Sogar die Weißrussen können sagen, dass sie zu einer europäischen Institution gehören“, meint er.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Europa-USA

Europäer so schlimm wie Amis

„Amerikaner hatten schon immer ein masochistisches Verhältnis zu Europa“, schreibt der britische Autor Simon Doonan in Slate US.

Ihr katzbuckelt vor jedem, der britisches Englisch spricht, ganz egal, wie schlecht seine Zähne sind. Wenn die Französinnen herablassende Bücher darüber schreiben, wie viel schicker, dünner und kultivierter sie sind als die amerikanischen Mädels („French Women Don't Get Fat“ usw.), dann rennt ihr Amerikaner los, kauft zig Exemplare und geißelt euch mit verkannter Frankophilie.

Amerikaner, so schreibt Doonan, „spielen insgeheim mit dem Gedanken, Europa sei ein Heilmittel gegen den krassen Materialismus der USA“. Doch es gibt ein Mittel gegen diesen Eurofetisch – den 56. Eurovision Song Contest:

Einmal im Jahr unterbrechen die lieben Leute in Europa ihr Komasaufen, ihren Sexhandel und ihr Serienmorden, kuscheln sich auf das Sofa vor den Fernseher und schauen dabei zu, wie 40 Länder untereinander ausfechten, wer die beste Pop-Nummer des Jahres auf die Bühne bringt...

Trainieren Sie schon einmal die Muskeln, die Sie zum Verziehen Ihres Gesichts brauchen! Wenn Sie es am kommenden Samstag fertigbringen, die mehr als drei Stunden dauernde Quälerei durchzuhalten (zu sehen auf der Eurovision-Website), dann garantiere ich Ihnen, dass am Schluss alle Ihre Vorstellungen von Euro-Überlegenheit von Ihnen abfallen als lägen sie wie figurformende Unterwäsche zu Ihren Füßen auf dem Boden.

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