53. Biennale Venedig, Ausstellung "Weltenmachen". Photo von JEEdwards.

Geopolitischer Karneval

Sie ist das begehrteste Treffen für zeitgenössische Kunst. Die Einwohner von Venedig interessieren sich dennoch herzlich wenig für ihre Biennale. Als ein Vorwand für die Gastländer, Reichtum und Einfluss zu demonstrieren, wird die Biennale immer mehr zum Forum für Geopolitik und immer weniger für Kunst, erklärt Télérama.

Veröffentlicht am 30 Juli 2009 um 15:26
53. Biennale Venedig, Ausstellung "Weltenmachen". Photo von JEEdwards.

Blau ist der Himmel. Und immer, wenn der Himmel am frühen Morgen blau ist, kauft sich Giovanni seine Zeitung und lässt sich im Schatten einer der riesigen Yachten, die im San Marco Becken vor Anker gegangen sind, auf einer Steinbank an der Schiavoni-Brücke nieder. Jedes Mal vollzieht er die gleiche Zeremonie: Er zündet sich einen kleinen gekrümmten schwärzlichen Zigarillo an, raucht ihn, während er den sich vorbeidrängenden Touristenscharen hinterher sieht, und beginnt anschließend seine Lektüre mit den Fußballseiten. Ein wenig später gesellt sich sein mit einer Angelrute bewaffneter Freund Guido, der, wie er auch, Rentner ist, zu ihm. Guido behauptet, dass das Dutzend großer Kajütboote, das die freien Plätze zwischen dem Dogenpalast und den Giardini besetzen, die Fische anzieht. Gekommen sind sie jedoch für die Biennale di Venezia, eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Während Giovanni liest, angelt Guido. Die Biennale interessiert sie nicht. Und bis auf den Schatten, den sie ihnen auf der Brücke spenden und die angeblich von ihnen angezogenen Fische, wecken auch die Yachten kein größeres Interesse bei den beiden.

Eine Banderole hinter ihnen verkündet, dass der Hof der alten Cornoldi-Kaserne für die Dauer der Biennale in den Pavillon des Fürstentums Monaco verwandelt wurde. Ununterbrochen bewachen zwei uniformierte Soldaten den Eingang. Wenn man die Brücke noch ein wenig weiter in Richtung Dogenpalast hinaufgeht, so trifft man auf ein weiteres Transparent, auf dem man lesen kann, dass die Santa Maria della Pieta Kirche den marokkanischen Pavillon beherbergt. In der ganzen Stadt mieten immer mehr Länder, die keinen offiziellen Pavillon in den Castello-Gärten (die Giardini, ein historischer Ort der Biennale) haben, Paläste und entweihte Kirchen. Am Vortag fragte eine Französin in einem völlig überfüllten Vaporetto [ursprüngliches Dampfschiffchen, heute mit Dieselmotoren betrieben] eine andere: "Gehst Du zu den Walisern?". Damit meinte sie den walisischen Pavillon, der in einer alten Brauerei der Insel eingerichtet wurde, und dem man dem ehemaligen Musiker von Velvet Underground, John Cale, anvertraut hatte.

So gibt es auf der ganzen Insel inzwischen mehrere Dutzend von diesen improvisierten Pavillons. Große Aushängeschilder künden sie an, aber die Touristen trauen sich nicht, sie zu betreten, und die Venezianer strafen sie mit vorwurfsvollen Blicken. Beispielsweise die alte Scuola Grande della Misericordia, die im Norden der Insel mitten im Cannaregio-Viertel liegt. Hier hat sich ein litauischer Künstler, Zilvinas Kempinas, niedergelassen. Spezialisiert hat er sich auf das Recycling von Magnetbändern aus Videokassetten, mit denen er hier versucht, einen Tunnel zu bauen. Wahrscheinlich weiß er nichts davon, dass diese Schule in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von dem römischen Architekten und Bildhauer Sansovino errichtet wurde, der damit auf eine andere berühmte venezianische Schule, der von Bartolomeo Bon entworfenen und 1549 von Scarpagnino fertig gestellten San Rocco, reagierte.

Die zwei aus dem Viertel stammenden Damen kennen die Geschichte des Gebäudes und wissen um den Wert seiner architektonischen Spitzenleistung (der Versammlungssaal in der ersten Etage ist gleich nach dem des Dogenpalastes der zweitgrößte Saal der ganzen Stadt). Scheinbar können sie weder dem Tunnel noch dem Aluminiumpapier, das die hintere Mauer auskleidet, etwas abgewinnen. Schließlich hängt nur einige wenige Meter von hier entfernt das Jüngste Gericht von Tintoretto in der Kirche Santa Madonna dell'Orto. Die Kunst, zu der sich eine Gesellschaft bekennt und die sie verteidigt, ist auch ein Zeichen ihres Ehrgeizes.

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Die Entwicklung der Biennale und ihre Verbreitung in der gesamten Stadt scheinen die Venezianer nicht im Geringsten zu interessieren. Sie werden schließlich fast das ganze Jahr über vom Tourismus erstickt. Jedoch liegt das Paradoxon nicht nur hier: Je weiter die Globalisierung der Welt voranschreitet, umso mehr wird die Biennale zu einer Ansammlung verschiedener Nationalismen. Am 30. April 1895 wurde die Biennale erstmals eingeweiht. Damals gab es nur einen einzigen Pavillon, den man in den Giardini für eine große Ausstellung konstruiert hatte. 1907 errichtete Belgien den ersten ausländischen Pavillon. Frankreich entwarf seinen Pavillon fünf Jahre später.

Heute sind es ungefähr 30 in den Giardini und 35 provisorische Pavillons über die ganze Stadt verteilt. 2011 wird sogar der Vatikan seinen Pavillon haben. Vielleicht ist das seine Antwort auf die in großer Zahl vertretenen Golfstaaten (nicht nur die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen eigenen Pavillon, sondern auch ihre politische Hauptstadt, Abu Dhabi). Jeder steht jedem in einem immer mehr politisch und immer weniger künstlerisch werdenden Wettbewerb gegenüber. Wichtig ist hier vor allem Einfluss, Macht und Reichtum.

Jedoch kommt es auch hin und wieder vor, dass der ein oder andere seinen Ruhm einbüßen muss. 1964 hat die Biennale den Amerikaner Rauschenberg, und eben nicht den Franzosen Bissière belohnt, was das Ende des französischen Kolonialreiches auch auf diese Art und Weise bestätigt. Allerdings wurde auch der ein oder andere geehrt: China ist beispielsweise neuerdings in einem Hangar am Ende des Arsenals, gleich neben dem italienischen Pavillon, untergebracht. Sicher wird man ihnen bald die Erlaubnis erteilen, einen wirklichen Pavillon in den Giardini zu errichten. Auf ihre ganz eigene Weise scheint die Biennale di Venezia und ihre nationalen Pavillons auch eine Art wirtschaftliche und geopolitische Karte des gesamten Planeten widerzuspiegeln. Dementsprechend hatten die Organisatoren vor vier Jahren die "großzügige" Idee, Afrika einen Pavillon zur Verfügung zustellen. Dabei vergaßen sie ganz nebenbei, dass Afrika kein Land, sondern ein aus 54 verschiedenen Staaten bestehender Kontinent ist. So fällt es uns auch viel leichter, Giovanni und Guido und die meisten anderen Venezianer zu verstehen. Das Gebiet, auf dem Italien noch immer einen der ersten Plätze weltweit belegt, ist noch immer der Fußball.

Ihre Aufmerksamkeit widmen die beiden Kameraden voll und ganz den katastrophalen Ranglistenergebnissen der regionalen Fußballmannschaft. Der SSC Venedig stand nämlich kurz vor dem Abstieg. Gerettet hat der Club sein Image dank eines Gleichstandes beim letzten Ausscheidungsspiel im Stadion von Pro Sesto (Sesto San Giovanni in der Lombardei). Doch das geschah nach der Eröffnung der Biennale. Außerdem hat die Kunstwelt Venedig eigentlich schon lange verlassen. Man wechselte zur Kunstmesse in Basel über und ließ die Giardini, welchen die Touristen sowieso kaum einen Besuch abstatteten, einfach zurück. Und jetzt können Regengewitter sie verwüsten.

BESICHTIGUNG

Schöne Überraschungen

"Die Biennale di Venezia ist wie ein richtiges Unternehmen. Alle wollen dabei sein, aber nur wenige können ihr wirklich etwas abgewinnen", schreibt der Chefredakteur der tschechischen Art + Antiques, Jan Skřivánek. Dennoch war die Biennale dieses Jahr irgendwie anders, meint er. Der tschechisch-slowakische Pavillon gehörte zu den interessantesten. "Um die Grenzen zwischen der ganz gewöhnlichen 'un-künstlerischen' Wirklichkeit und der Kunstgalerie zu überwinden, hat der Künstler Roman Ondák im Inneren des Pavillons Bäume und Sträucher aufgestellt", erklärt Skřivánek. "So als existiere gar kein Pavillon. Interpretieren könnte man seine Installation als Kritik des nationalen Ausstellungskonzeptes, als Repräsentation des Pavillons eines gar nicht existierenden tschechischen States."

Den goldenen Löwen für den besten Pavillon erhielten die Amerikaner mit ihrer Installation "Topological Gardens" von Bruce Naumann. Jedoch weist der Journalist darauf hin, dass die skandinavischen Länder, die sich ebenfalls einen Pavillon teilen, "den größten Erfolg errungen haben". Die Dekoration ihrer zwei in Luxusvillen verwandelten Pavillons haben sie den Werken privater Sammlungen entlehnt. "Die Deutschen haben von sich Reden gemacht, indem sie ihren Pavillon einem in Berlin lebenden Engländer anvertraut haben", fährt Jan Skřivánek fort. "Und wie gewöhnlich haben die Russen die Aufmerksamkeit mit einem äußerst ungewöhnlichen Kunstwerk auf sich gezogen: Ein eine Mauer durchbrechendes Motorrad und ein den tschetschenischen Kriegsopfern gewidmeter mit Benzin und Blut verschmierter Raum."

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