Rom-Berlin, die neue Anti-Atom-Achse

Erst der Atomausstieg Deutschlands, dann die Ablehnung einer Rückkehr zur Atomenergie in Italien: Dieser Sinneswandel zweier EU-Gründungsmitglieder könnte die übrigen Mitgliedsstaaten dazu bewegen, sich endgültig von der Kernkraft zu verabschieden und künftig auf erneuerbare Energien zu setzen.

Veröffentlicht am 17 Juni 2011 um 15:21

Wenn die Rückkehr zur Atomenergie hinsichtlich Kosten, Zeitfaktor und Risiken überhaupt ein praktikabler Weg ist, dann hat der Großteil der italienischen Bevölkerung diese Möglichkeit eindeutig ausgeschlossen (und zwar zum zweiten Mal innerhalb eines Vierteljahrhunderts).

Dieses zweite "Nein" zur Kernkraft muss Anlass für ein gründliches Überdenken sein, wobei man sich nicht auf die Fragen beschränken darf, die das Referendum unmittelbar aufgeworfen hat. Es genügt nicht, die Verantwortlichen in der Regierung oder im Energiesektor an die Notwendigkeit eines Entwicklungsplanes für den Bereich alternative und erneuerbare Energieträger zu erinnern – nein, man muss auch deutlich machen, dass eine der Entscheidung angemessene radikale Verhaltensänderung nunmehr schlicht Bürgerpflicht ist. Fehlende Mülltrennung, Wasservergeudung, übermäßiger Gebrauch des Autos, ständig laufende Heizung beziehungsweise Klimaanlage – dies sind nur einige Gewohnheiten, die wir gemeinsam mit den Atomplänen Italiens begraben sollten.

Zudem sollten wir uns fragen, wie die Zukunft für die nächsten Generationen aussehen wird, für die die aktuelle Entscheidung in Italien grundlegenden Auswirkungen hat. Vielleicht keimt bei den Italienern ein wenig Stolz darüber auf, das erste Land zu sein, das sein "Nein" [erstmals abgegeben beim Referendum 1987] erneut bekräftigt hat: die Bestätigung für eine Entscheidung, die Italien in kultureller und strategischer Hinsicht in die Nähe Deutschlands (und der Schweiz!) rückt und durch die der Einfluss Frankreichs [in Italien] etwas geringer wird, mit dem unser Land [d. i. Italien] kürzlich eine Art technologisch-industriellen Pakt für die Rückkehr zur Atomkraft abgeschlossen hat. Es sei daran erinnert, dass die Entscheidung der Deutschen nicht nur aus Angst vor der Gegenwart oder aus einer historisch gewachsenen, "intellektuellen" Furcht getroffen wurde, sondern auch darauf zurückzuführen ist, dass Deutschland schon vor dem Verzicht auf die Atomkraft seit gut 20 Jahren in erneuerbare Energien investiert und sich die Anzahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich verdoppelt hat – dies sollte im Hinblick auf Erfahrung und Industriestrategie berücksichtigt werden.

Ein atomkraftfreies Europa ist eine Utopie

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Was Frankreich betrifft, so sei daran erinnert, dass eine beträchtlicher Anteil der Franzosen nach Fukushima und nach der Entscheidung Deutschlands für eine Wende in der Atompolitik war, und das trotz der 58 französischen Atommeiler und der Pläne Frankreichs für eine neue Generation von Kraftwerken. Präsident Sarkozy bekannte sich zwar auch nach der Katastrophe in Japan zur historischen Entscheidung General De Gaulles [für die Kernkraft], hatte aber bereits zu Beginn seiner Amtszeit ein großes Umweltministerium geschaffen, das den Bereich der erneuerbaren Energieträger stärken und die Abhängigkeit von der Kernkraft reduzieren sollte. Da er wie Angela Merkel aus dem konservativen Lager stammt, hat Sarkozy begriffen, dass erneuerbare Energien auch ein Geschäft sind und die traditionellen Parteien gegenüber den Umweltbewegungen und Atomgegnern enorm viel riskieren. Die französischen Grünen haben die Atomfrage in ihrem Wahlprogramm 2012 mit den Sozialisten berücksichtigt, die großteils Nuklearbefürworter sind.

Im Energiebereich sind strategische Entscheidungen einzelner Länder maßgeblicher als die gesamteuropäische Perspektive, aber wenn zwei Industriemächte wie Italien und Deutschland, G8-Mitglieder und Gründungsstaaten der EU, aus der Atomkraft aussteigen, kann man durchaus davon ausgehen, dass diese Entscheidung großen Anreiz für Veränderungen bieten und die öffentliche Meinung in den anderen Ländern stark beeinflussen wird, und es ist auch kein Wunschtraum, wenn man vermutet, dass dieser Weg letztlich von ganz Europa beschritten werden und die Führungsposition eines Kontinents, der im Klima- und Umweltbereich bereits einen Schritt weiter ist als der Rest der Welt, noch weiter stärken könnte.

Dadurch wäre ein Einwand aus dem Weg geräumt, der die Diskussion lange belastet hat, nämlich, dass ein Atomausstieg unmöglich ist, wenn unmittelbar an der [europäischen] Grenze Atomkraftwerke stehen. Ein atomfreies Europa ist eine Utopie, aber die kulturelle Revolution ist im Rollen, und es könnte in einigen Jahrzehnten Realität sein: Vielleicht wird dann die Unterscheidung zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Kernenergie nicht mehr entscheidend und grundlegend sein. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass im Bereich erneuerbare Energien – genau wie bei Friedens-, Immigrations- und Rohstofffragen – ausschließlich möglichst fruchtbare und konstruktive Beziehungen zu den südlichen Mittelmeerstaaten, die gerade den ungewissen und mühevollen Weg in Richtung Demokratie beschreiten, zum gewünschten Erfolg führen können. Dabei geht es nicht nur um das Öl aus Libyen und das Gas aus Algerien, sondern auch um die Sonne und die Wüste, Schätze der Armen und eine wesentliche Grundlage für unsere Zukunft.

Atomausstieg

Paris steht immer isolierter da

Frankreich fühlt sich vom deutschen Atomausstieg provoziert, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der französische Industrie- und Energieminister Eric Besson fordert europäische Verhandlungen über die Folgen dieser nationalen Entscheidung. Denn diese setzt die französische Regierung unter Druck: 62% der Franzosen sprechen sich für einen Atomausstieg in den nächsten 25 Jahren aus, während sich allerdings Präsident Nicolas Sarkozy eindeutig weiterhin für die Nuklearenergie entschieden hat. Ende März zeigten deutsch-französische Demonstrationen für die Schließung des Atomkraftwerks von Fessenheim im Elsass [das älteste der französischen Kernkraftwerke, das auf einer Erdspalte steht], dass die Anti-Atomkraftbewegung grenzüberschreitend geworden ist. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt zu bedenken, dass die Energiefrage die französischen Präsidentschaftswahlen 2012 in kritischer Weise dominieren könnten.

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