Ehrgeiziges und solidarisches Polen

Am 1. Juli übernimmt Polen die EU-Ratspräsidentschaft. Dank seiner erfolgreichen politischen und wirtschaftlichen Transformation kann es Europa aus der Krise helfen, glaubt die wichtigste Wochenzeitung Warschaus.

Veröffentlicht am 30 Juni 2011 um 15:18

Der Beginn der polnischen EU-Ratspräsidentschaft steht unter einem guten Stern. Seit einiger Zeit schon hat Polen eine Glückssträhne und macht, was es machen muss: Mit seinen eigenen Mitteln und ohne die Hilfe von Werbe-Magnaten oder Öffentlichkeitsarbeitern.

Momentan läuft alles gut. Im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen [im Oktober] reicht allerdings schon eine Kleinigkeit aus, damit die – recht gnädigen – europäischen Medien die Vorurteile zum „polnischen Wirrwarr“ wiederbeleben. Neben der Lösung der technischen Probleme muss Polen seine Bündnisse und seine Beziehungen zum Europäischen Parlament pflegen.

Wenn die polnische Regierung ihrer Präsidentschaft einen Sinn geben will, muss sie darüber nachdenken, welche Spuren sie hinterlassen sollte. Die belgische Präsidentschaft [1. Juli bis 31. Dezember 2010] hat einen guten Eindruck hinterlassen, obwohl Belgien nicht einmal eine Regierung besaß! Sie schreckte weder vor komplizierten Fragen noch vor schwierigen Verhandlungen zurück, wie das Beispiel der Patente beweist.

Genügend Platz für grandiose Einfälle gibt es. Schließlich steht Europa vor immensen Problemen. Fragen sollte man sich allerdings, ob ein Land, dessen Bruttosozialprodukt nur fünf Prozent der ganzen Union beträgt, wirtschaftliche Fragen mit den größeren Ländern auf einer Augenhöhe angehen kann? Die polnische Regierung kann nicht leugnen, was ganz offensichtlich ist: Europa steht an einem Scheideweg. Aufgrund der wirtschaftlichen Unfähigkeit der letzten Jahre und der sich auflehnenden, zu explodieren drohenden Gesellschaften, stehen seine äußeren Länder in Flammen.

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Ein neuer Vertrag für den Süden und den Norden

Polen könnte behaupten, das alles geht es nichts an, weil es sich aus wirtschaftlicher Sicht recht gut zu helfen weiß. Die Versuchung zu handeln ist aber besonders groß, zumal die Haushaltsverhandlungen bald beginnen werden und gewaltige Beträge auf dem Spiel stehen. Am einfachsten wäre es, seinen Partnern zu sagen, sie sollen alles beim alten belassen und weiterhin von den reichen Ländern 100 Milliarden Euro als gerechten Beitrag fordern [aufgrund der zuletzt beigetretenen Länder wie denen des ehemaligen Osteuropas].

Seit Jahren schwenkt Polen die Fahne der Solidarität und bittet Europa um Hilfe für die neuen Mitgliedsstaaten. Mit der Rettung der südlichen Länder stellt sich nun die Frage der Finanz-Solidarität. Diese wird sich auf die herkömmliche Solidarität auswirken, von der auch Polen profitiert. Wir können für unsere Interessen eintreten und schweigen, indem wir auf eine Reihe günstiger Ereignisse setzen. Wir können aber auch eine „neue Erzählung“ beginnen, in die wir als Verfechter des europäischen Geists und Urheber eines neuen Vertrages eingehen, der sowohl für den Süden als auch den Norden unseres Kontinents von Vorteil ist.

Das zweite Themengebiet ist zweifellos die europäische Nachbarschaft. Mit Neid und Bewunderung lesen wir die Rede Barack Obamas zu den Veränderungen im Nahen Osten und Nordafrika. Ein Meisterwerk. Die arabische Revolution wird hier als neues Kapitel des amerikanischen Unabhängigkeitskampfs dargestellt. Den jungen Arabern sagt Barack Obama, dass sie wie Amerikaner sind. Davon sollten sich die europäischen Führungskräfte eine Scheibe abschneiden. Allerdings quälen Europa diesbezüglich Zweifel: Aufgrund seiner geografischen Nähe zu diesen Regionen fehlt es ihm angesichts der Veränderungen an Garantien.

Für Polen ist das eine Herausforderung. Wir müssen zeigen, dass die europäische Geschichte nicht die der Herrschaft über andere Kontinente, sondern die einer erfolgreichen Demokratisierung ist, die vor zwanzig Jahren in unseren Regionen noch weit davon entfernt war, wirklich zu gelingen.

Feuertaufe Ratsvorsitz

Polen muss die Errungenschaften seiner eigenen Transformation stark machen und darauf bestehen, dass ein Sonderbeauftragter für die Reformen in der arabischen Welt berufen wird. Diese Aufgabe sollte von einem vielversprechenden Politiker aus Mitteleuropa wahrgenommen werden. Wir müssen die EU dazu zwingen, ein ehrgeiziges Programm auf die Beine zu stellen, mit dem der Transformationsprozess unterstützt wird. Ziel sollte es sein, die Wirtschaft zu liberalisieren, finanzielle Hilfe zu leisten und sicherzustellen, dass rechtsstaatliche Institutionen und unabhängige Medien geschaffen werden. Kurzum: Alle die Mechanismen, die zum Erfolg unserer Transformation beigetragen haben.

Letztendlich werden die Öffentlichkeit, die Medien und die Experten über den Erfolg der polnischen Ratspräsidentschaft entscheiden. Jeder erinnert sich an die Rede Tony Blairs 2005 vor dem Europäischen Parlament. Selbst die Abgeordneten, die ihm absolut nichts abgewinnen können, applaudierten. Ministerpräsident Donald Tusk muss diesem Weg folgen und von seiner Vision Europas sprechen, nicht von den technischen Aspekten der Präsidentschaft.

Für Polen in Europa werden die kommenden sechs Monate wichtiger sein als wir uns vorstellen. Man sagt, dass ein Land erst dann wirklich zur Union gehört, wenn es einmal die Präsidentschaft innehatte. Die Römer glaubten, nur die Reichen können sich wirklich mutig der Wirklichkeit stellen. Um Niederlagen zu vermeiden beschränken sich die Neueinsteiger in der Europäischen Union meist auf das Minimum. Üblicherweise geht nichts davon in die Geschichte ein. Polen muss zwar gewiss als Einsteiger auftreten, aber sich auch seiner Möglichkeiten und seines Werts bewusst sein. (jh)

Wirtschaft

Europas neue Lokomotive

La Repubblica nimmt die beginnende polnische EU-Ratspräsidentschaft zum Anlass, um Bilanz zu ziehen: Welchen Weg hat das Land seit dem Ende des Kommunismus und dem EU-Beitritt zurückgelegt? In einer Reportage erzählt die Tageszeitung aus Rom, welche tiefgreifenden Veränderungen das Land der Solidarność in den vergangenen Jahren erlebt hat:

Wenn man beim Anflug Warschaus einen Blick durch das Bullauge des Flugzeugs der LOT wirft, tauchen am Horizont an Miami, Sydney oder Shanghai erinnernde Wolkenkratzer auf. Geht die Boeing noch weiter herunter, erspäht man ein Meer von neugebauten Eigenheimen. Der Flughafen ähnelt dem in München und der Koffer ist innerhalb von fünf Minuten da. Willkommen im neuen Polen: Das Land, das 1989 mit der Unterstützung Michail Gorbatschows den Mauerfall und die Revolution erlebte, und das am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Die Wirtschaft expandiert: Nach Deutschland ist Polen die zweite Lokomotive Europas. Die Politik ist stabil: Im Parlament gibt es weder Extremisten noch Raufereien. Zwischen den regierenden Liberalen und der post-kommunistischen Opposition herrscht vielmehr Konsens. Im Interesse des System-Lands arbeitet man zusammen.

Einer der Schlüssel zum Erfolg Polens ist die Anbindung an das deutsche System, dank der die Wirtschaft boomt, und Immobilienblasen sowie Spekulation wie in Spanien oder Irland Fremdwörter sind, schreibt La Repubblica. Für die Tageszeitung ist der neue Wohlstand mit bloßem Auge zu erkennen: „Die in Danzig, Krakau, Posen, Torun und jeder Kunststadt prachtvoll restaurierten historischen Stadtkerne mit ihren zahlreichen Geschäften ziehen viele junge Menschen an.“

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