In den Strassen Warschaus.

Polen: Volle Fahrt voraus!

Mit seiner sich rasch entwickelnden Hauptstadt, neuen Autobahnen und einer EU-gestützten Landwirtschaft schafft sich Poen eine neue Identität, die weniger pro-amerikanischer und dafür umso europhiler ist in Bericht.

Veröffentlicht am 4 Juli 2011 um 15:07
Milan Jaroš / Respekt  | In den Strassen Warschaus.

In den Wagons der einzigen Warschauer U-Bahn-Linie drängen sich die Passagiere morgens genauso dicht wie in jeder anderen U-Bahn-Linie der Welt. Doch im Vergleich zu Prag oder Wien – ganz zu schweigen von Paris oder London – fällt eines auf: Alle Fahrgäste sind Polen. Ausländer und Gäste strömen nicht gerade nach Warschau. Und auf den ersten Blick ist das auch nicht überraschend.

Das vorherrschende Merkmal der polnischen Hauptstadt ist der Wolkenkratzer des Kulturpalasts, der im Stil der Stalin-Ära erbaut wurde, – und die breiten Straßen, die in den 50er Jahren durch die Ruinen der kriegsgeschundenen Stadt gebaggert wurden, laden nicht zum Bummeln ein. Es ist auch so gut wie unmöglich, ihnen in ein Café zu entfliehen, in dem es eine Internet-Verbindung gäbe.

Und doch hat diese Stadt etwas Aufregendes. Warschau, wie übrigens ganz Polen, pulsiert vor Energie und verändert sich von einem Tag auf den nächsten. Baukräne stehen imposant über der Skyline. Nur einen kurzen Fußmarsch vom Zentrum an der Weichsel entlang, steigt der mächtige Ring des neuen Stadions in die Höhe. Polen bereitet sich auf die Fußball-Europameisterschaft von 2012 vor. Doch vorher steht noch eine andere Aufgabe an: Ab dem 1. Juli führt Polen den Vorsitz der Europäischen Union.

Der Vorsitz kommt zu einem Zeitpunkt, da Polen seine Weltanschauung eingehend geändert hat. Es ist inzwischen auch zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht in der EU geworden und ist als Handelspartner für Deutschland bereits bedeutender als Russland. Es besteht kein Zweifel daran, dass Polens Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten nur zunehmen kann.

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Gespaltenes Land

In einer ruhigen Passage der Nowy Swiat Straße sitzt der jugendlich wirkende Marcin Zaborowski in einem Büro mit einer eindrucksvollen Bibliothek. "Das Schlüsselwort in diesem Land ist heute die Modernisierung“, erklärt er. "Neue Autobahnen, neue Infrastrukturen und eine neue Außenpolitik.“ Zaborowski ist der Leiter des Polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (PISM) und glaubt fest an den Wandel. Bis vor kurzem lebte er in Großbritannien, als einer der zwei Millionen vorwiegend jungen Polen, die aus Polen in andere EU-Ländern geflüchtet waren. Vor einem Jahr gewann er die Ausschreibung um diesen Posten, kehrte mit seiner britischen Ehefrau in die Heimat zurück und beschloss zu bleiben.

Bei der Außenpolitik in Polen geht es, klipp und klar gesagt, um Leben und Tod. Als Polen vor vier Jahren, nach der Wahlniederlage der nationalen Konservativen, vom euroskeptischen Unruhestifter zum glühenden Verfechter der europäischen Integration mutierte und sogar begann, ganz normale Gespräche mit seinem Erbfeind Russland zu führen, verstanden manche Polen das als einen Verrat der nationalen Interessen. Beide Lager verschanzen sich hinter ihren Positionen: Auf der einen Seite die liberale Regierung von Donald Tusk, die eine neue internationale Orientierung vertritt, und ihr gegenüber die konservative Rechte unter Jaroslaw Kaczynski. Die Spannungen und die gegenseitige Abneigung, die Politiker, Wähler und Medien spalten, könnte man mit dem Messer zerschneiden.

Lang lebe der Schiefer

Die überraschend schnelle Verwandlung Polens in ein pro-europäisches Land ist nicht nur den neuen Generationen der Eliten zu verdanken, sondern auch anderen Faktoren. Eine Enttäuschung war in den letzten Jahren die Entwicklung der amerikanischen Interessen, die sich auf andere Regionen der Welt verlagerten. Zweitens fasste das Land in wirtschaftlicher Hinsicht zunehmend Vertrauen: Als einziges Land in Europa überstand es die Weltkrise ohne Rezession, das Wachstum beträgt heute vier Prozent und – besonders wichtig – es wurden weitläufige Schiefergasvorkommen entdeckt.

Die dritte Erscheinung ist die Wende in der öffentlichen Meinung. Während 2004 nur knapp 50 Prozent der Polen die Europäische Union als positiv betrachteten, liegt diese Zahl heute bei knapp 80 Prozent. Außenminister Radoslaw Sikorski kann deshalb darauf vertrauen, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung mit seinen Strategien im Einklang steht. Was machte denn nun die Polen ganz plötzlich zu den größten Euro-Optimisten in der EU?

Die stärksten Gegner des Beitritts bildeten den traditionellen Kern der polnischen Gesellschaft, nämlich die Bauern. "Sie befürchteten, dass sie gegenüber den europäischen Märkten nicht standhalten könnten und dass die Deutschen ihnen das Land wegkaufen würden“, meint einer der sechs Berater von Präsident Bronislaw Komorowski. Aber dann fanden sie heraus, dass niemand ihr Land haben wollte und dass sie, ganz im Gegenteil, die deutschen Märkte dank der Subventionen aus Brüssel mit Erfolg erobern konnten.

Reise zu den Bauern

Die Fahrt von Warschau bis zu den polnischen Bauernhöfen ist mühsam. Die vierspurige Straße nach Kattowitz, deren Bau in den 70er Jahren vom kommunistischen Staatschef Edward Gierek in Gang geleitet wurde, ist immer noch erst halb fertig. Die polnische Regierung hat versprochen, bis zum Jahr 2012 tausend Kilometer Autobahn zu bauen, doch es ist schwer vorstellbar, dass diese Autobahn tatsächlich rechtzeitig fertig wird.

Aber sie ist immerhin besser als die Autobahn nach Posen, die die Chinesen mit Hilfe von polnischen Unternehmen bauen sollten. Doch aufgrund von Streitigkeiten über die Finanzierung zog sich die Regierung letztendlich von dem Vertrag mit China zurück und die Baustelle liegt nun seit Wochen brach. Langfristig ist auch die Fertigstellung des Fußballstadions in Warschau nicht völlig sicher. Der Aufschwung in der polnischen Bauindustrie ist ganz offensichtlich nicht perfekt.

Nach einem Schwenker nach Westen, in Richtung der Stadt Oppeln, wendet sich das Landschaftsbild zu typischem Ackerland. Vor ein paar Jahren waren die polnischen Dörfer und Kleinstädte mit Plakaten gespickt, die Plastikfenster und Metalldächer anpriesen. Heute werben die Plakate statt dessen für meble – für Möbel. Es scheint, dass für die Polen nach dem massiven Austausch ihrer Fenster jetzt große Veränderungen in der Inneneinrichtung an der Reihe sind.

Ein kurzes Stück die Straße hinunter kommt Paweł Pietruska, 54, auf seinem Traktor herangetuckert, die Strohpresse hinter ihm spuckt große Heuballen aus. Er hat 20 Kühe und leitet einen Familienbetrieb mit 70 Hektar Land. "Die Europäische Union? Sie wissen ja, dass wir da drin sein müssen. Wo sonst würden wir unser Getreide und unsere Milch verkaufen?“ Pietruska hat alles zusammengezählt und könnte stundenlang über Landwirtschaft und Politik reden. Aus Brüssel bekommt er jährlich circa 200 Euro pro Hektar, und wenn er auf jemanden sauer ist, dann bestimmt nicht auf die EU, sondern vielmehr auf die polnische Regierung.

Sogar ein Bauer der jungen Generation, Sebastian, 35, der von 13 Hektar Land bequem lebt, ist zufrieden. "Ich habe zehn Kühe, fünf Schweine, zwei Ponys, eine Frau und zwei Töchter. Dank der Subventionen aus Brüssel reicht mir das.“ Doch der Mann, der nur ein paar Kilometer weiter in einem Kartoffelfeld mit der Hacke zugange ist, strahlt eine spürbare Traurigkeit aus. "Der Boden ist lauter Sand. Wer würde den kaufen? Wir bearbeiten ihn seit 40 Jahren und es wird nur schlimmer“, sagt Tomek, 58.

Er lebt ohne Frau und ohne Traktor. Er hat nur ein Pferd zum Freund, und es hat seit Monaten nicht geregnet. Brüssel? Das bedeutet nur Papierkram und dafür hat er die Nerven nicht. „Unter dem Kommunismus war es besser“, fügt er hinzu. Wählen wird Tomek allerdings nicht. Politik interessiert ihn nicht.

Umfragen zufolge hat Donald Tusk gute Chancen, nach den Parlamentswahlen im Oktober seinen Job zu behalten und somit als erster Ministerpräsident seit 1989 im Amt zu bleiben. Angesichts der polnischen Sympathien für Brüssel kann es sich sogar für seine Wahlkampagne positiv auswirken, wenn er den EU-Vorsitz gut bewältigt. Das findet auch Edward Lucas: "Polen ist auf dem Weg, derjenige der postkommunistischen Staaten mit dem besten EU-Vorsitz zu werden.“

Ins Deutsche übersetzt von Partricia Lux-Martel

Aus polnischer Sicht

Triumph des Euro-Realismus?

"Der polnische Vorsitz setzt ein, während Europa um seine Zukunft zittert“, schreibt Marek Magierowski in der Rzeczpospolita und erwähnt die bevorstehenden Risiken: ein "informeller Katastrophenzustand in Griechenland“ und die harte wirtschaftliche Lage in Spanien, Portugal und Irland, wo die Leute "die Gürtel enger schnallen, aber fast schon beim letzten Loch angelangt sind“. Doch es gibt immer noch ein Licht am Ende des Tunnels, denn die aktuelle Krise hat eine "öffentliche Debatte“ in Europa ausgelöst.

Die Leute haben gemerkt, dass der Kult des "Europäismus“ unmöglich ein Allheilmittel gegen alle Maläsen des Alten Kontinents sein kann“, dass "die Euro-Realisten oft recht hatten und die Euro-Enthusiasten unrecht“, schreibt der stellvertretende Chefredakteur der Rzeczpospolita und stellt fest, dass es heute möglich ist, frei von den "Schwächen des Vertrags von Lissabon“, der "Illusion einer gemeinsamen Außenpolitik“ und "Catherine Ashtons Ineffizienz“ zu sprechen, sich zu "fragen, wer als erstes aus der Eurozone austritt“ und sogar "wie schnell die EU wohl zerfällt“ – und all das, ohne womöglich als "Spinner“ abgestempelt zu werden. "Während die polnische Regierung in den kommenden sechs Monaten nicht viel zu sagen haben wird, haben die Europäer immer mehr zu sagen. Und zwar sehr gut“, schließt Magierowski.

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