Ausschnitt der Porträts von Pater Michael J. McGivney von Richard W. Whitney. GFDL Lizenz.

Schlechte Erziehung

Eine Nation taumelt vor dem Befund der Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch zurück. Die von der Irisch-katholischen Kirche betriebenen "Industrial Schools" und Waisenheime waren von Vergewaltigung und sexueller Belästigung durchdrungen.
Fintan O'Toole fragt in der Irish Times, wie eine Gesellschaft ihre Kinder in dieses "Terrorsystem" einsperren konnte.

Veröffentlicht am 26 Mai 2009 um 15:29
Ausschnitt der Porträts von Pater Michael J. McGivney von Richard W. Whitney. GFDL Lizenz.

Das von der Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch in ihrem Abschlussbericht enthüllte Ausmaß an organisierter Grausamkeit, die Kindern von der katholischen Kirche und vom Staat zugefügt wurde, ist unfassbar. Von 1936 bis 1970 wurden 170.000 Kinder in rund 50 Erziehungsanstalten eingewiesen, also mehr als jedes hundertste Kind seiner Altersgruppe.

Bei diesen Zahlen setzt das Vorstellungsvermögen aus, also versucht der Verstand, sich auf kleiner dimensionierte Bilder zu konzentrieren.

Der Frater, der wütend wurde, als ein lernschwacher Schüler nicht in der Lage war, eine Frage richtig zu beantworten: "Er hat den Jungen geschlagen und ihn dann am Kopf gepackt und auf die Bank geschmettert. Die Tinte schoss aus den Fässern hoch und er war voll Tinte und voll Rotz und Blut."

Das Bild, das ein Kind von dem Mann hat, der es schlug: "Er war wie ein Wolf. Seine Kiefer traten buchstäblich nach vorne und er bleckte die Zähne..."

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Der Frater, der sein Kofferradio voll aufdrehte, wenn ein Junge in sein Zimmer kam und dann zu ihm sagte: "Zieh dein Nachthemd aus, du kannst schreien so viel du willst, du kleiner Bastard."

Was war los mit unserer Gesellschaft, die zuließ, dass Kinder in ein System des Terrors eingesperrt wurden? Im Wesentlichen unterhielt das junge unabhängige Irland ein Netzwerk von Gefangenenlagern für Kinder, die mit willkürlicher Gewalt, entschiedener Verderbtheit und einem Gefühl von völliger Straflosigkeit geführt wurden.

Derartige Anstalten werden gewöhnlich mit Totalitarismus assoziiert. Irland hatte zwar kein totalitäres Regime, doch speziell für arme Kinder produzierte es dasselbe Resultat. Die in den "Industrial Schools" angewandten Methoden erinnern an die Zustände im Konzentrationslager: Man schor die Köpfe der Häftlinge kahl, zerstörte durch Demütigungen und Desorientierung jegliches Gefühl von persönlicher Identität, ließ die Hunde auf sie los oder schlug sie, während sie an Haken an der Wand hingen.

Wie haben wir dieses totalitäre System geschaffen? Am einfachsten ist es, von Ungeheuern zu sprechen. Doch die Nonnen und Ordensbrüder, die diese Gefangenenlager führten, stammten aus ganz gewöhnlichen Bauernhöfen, Läden und Straßen. Sie waren gute Töchter und gute Söhne aus guten Familien, die ihren Eltern durch den Eintritt ins Ordensleben Freude bereiteten.

Viele waren nicht von Haus aus Sadisten. Sie lernten, wie schon alle Folterer vor ihnen, ihre Opfer zu entmenschlichen und das Grauenhafte als normal zu betrachten. Dieses Gefühl des Normalen wurde durch die Gruppendynamik verstärkt: Diejenigen, die bereits Blut vergossen hatten, übten Druck auf die anderen aus. Ein Frater erzählte der Kommission von einem "Vorfall, bei welchem seine Mitbrüder Beifall klatschten, als sie erfuhren, dass er einen seiner Schüler mit einem Fausthieb ins Gesicht bestraft hatte – er teilte zum ersten Mal eine so harte Strafe aus".

Das Wissen um diese Begebenheiten war konstant. Nicht nur das Erziehungsdepartment war sehr wohl über die Gewaltkultur informiert, sondern auch die beiden tragenden Säulen Staat und Kirche. In den 60er Jahren waren sowohl der irische Premierminister Eamon de Valera als auch der Erzbischof von Dublin, John McQuaid, persönlich unterrichtet worden.

Bei all diesen externen Mitwissern hätte die interne Kultivierung der Brutalität nicht überlebt, wären da nicht drei Gründe: Macht, Sex und Klassenbewusstsein. Die Kinderschänder übten ihre Macht unter dem Deckmantel der Kirche aus, die durch ihre gewaltige Position Ungestraftheit verlieh. Die Gewalt innerhalb der Heime war ein Ausdruck absoluter Macht. Ein Bruder berichtete der Kommission, die Möglichkeit, die Jungen zu schlagen, gebe ihm "ein Gefühl von Macht".

Das Ausmaß an Perversion, mit dem diese Macht oft ausgeübt wurde, lässt jedoch darauf schließen, dass diese Menschen nicht an Macht gewöhnt waren. Manche von ihnen – Produkte einer einstmals kolonisierten Gesellschaft, die unter starken Minderwertigkeitsgefühlen litten und selbst in einer autoritären religiösen Struktur lebten – sahen diese Macht letztendlich als Freibrief für alles. In einem Beispiel zwang ein Ordensbruder einen 12-jährigen Jungen, Fäkalien von seinen Schuhen zu lecken. Eine Kultur, in welcher man alles tun konnte, was man wollte, wurde unweigerlich zu einer Kultur, in welcher es nichts gab, wozu man nicht bereit gewesen wäre.

Die zweite Triebkraft war Sex. Die auf der Religion basierende Abscheu des eigenen Körpers äußerte sich in allen Mitteln, die die Brüder fanden, um die Körper ihrer Schützlinge zu verletzen. Es kam auch eine pervertierte Sexualität zutage, die zwischen Reinheitsbesessenheit und dem zwanghaften Drang zu Sexualtaten hin und her pendelte. Ein Zeuge erzählte der Kommission: "Sex? Meine erste Begegnung mit Sex fand in einer Hinterküche statt, an einen Boiler gepresst, an dem ich mir das Bein verbrannte, während Bruder Dax mich vergewaltigte."

Die dritte Triebkraft war das Klassenbewusstsein. Es handelte sich hier um eine Gesellschaft, in der die Mittelklasse ihrer statusbezogenen Unsicherheit in einer hysterischen Verachtung der Armen Ausdruck verlieh. Die Gewalt wurde geschürt von einem psychotischen Hass auf alles, das nicht in das Modell der anständigen, christlichen Familie passte. In Goldenbridge wurde den Mädchen gesagt, sie seien "dreckig" und "schlimmer als die Soldaten, die Christus ans Kreuz schlugen". Söhnen von alleinstehenden Müttern wurde erzählt, ihre Mütter seien "alte Huren".

Diese verzerrten Beziehungen zu Macht, Sex und Klasse wurden in den Anstalten und Heimen mit albtraumhafter Deutlichkeit ausgespielt, doch sie wurden auch in die breitere Gesellschaft eingewoben. Sie waren die dunklen Schatten einer Irischen Republik, die nie wirklich entstanden war.

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