„Euer Schweigen ist unser Tod“

Nach dem 11. September forderte der Westen von den Arabern mehr Demokratie. Heute kämpfen sie dafür, auch unter Lebensgefahr wie in Syrien. Doch die Europäer reagieren nicht mehr, unfähig Probleme jenseits ihrer Landesgrenzen zu fassen, schreibt der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio.

Veröffentlicht am 2 August 2011 um 14:28

Wir fordern von den Moslems nun schon seit einem Jahrzehnt, seit dem tragischen 11. September 2001, dass sie sich ernsthafter mit der Demokratie befassen und von Gewaltakten ablassen. Dem Krieg in Irak liegen der Kampf gegen den Terrorismus und das Engagement für die Demokratie zugrunde. Seit einigen Monaten strebt nun auch die islamische Welt nach Freiheit.

Der von den jungen Demonstranten ausgehende Impuls hat breitere Schichten erfasst. Die Söhne der Globalisierung konnten die Angst überwinden, die ganze Gesellschaften über Generationen hinweg lähmte. In Tunesien und Ägypten wurden langjährige Despoten entthront. Nun bleibt abzuwerten, wie der arabische Frühling in den Sommer übergeht und die politische Last der Freiheit schultert.

Trotzdem beschränken gar zu viele westliche Beobachter sich auf die Frage, welche Zukunft wohl den Islamisten beschert ist. Diese Haltung zeigt, wie wenig der Westen dem Streben nach Demokratie vertraut, und wie groß seine Ängste sind. Lange Zeit diente den arabischen Diktatoren der Schutz gegen die Islamisten als Legitimation. Heute ist Islamismus jedoch eine sehr allgemeine Bezeichnung, die viele verschiedene Akteure, von Demokraten und Konservativen bis hin zu Extremisten und Terroristen, für sich beanspruchen.

Realismus gegenüber den Assads dieser Welt

In der Türkei (die über das zweitgrößte Heer der NATO verfügt) regiert eine islamistische Partei. Das verhaltene europäische Interesse für den arabischen Frühling lässt vermuten, dass unsere Zivilgesellschaften nicht beabsichtigen, das arabische Streben nach Demokratie zu unterstützen. „Euer Schweigen ist unser Tod“, so lautete die klare Botschaft syrischer Demonstranten an den Westen. Im Fall Syriens reagiert der Westen besonders zurückhaltend, und zwar nicht nur wegen des Libyenkriegs und der Wirtschaftskrise, sondern auch, weil die Haltung gegenüber den Assads dieser Welt seit jeher von Realismus geprägt ist.

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Als Hafiz al-Assad 1982 in Hama rund 20.000 aufständische Anhänger der Muslimbrüder ermorden ließ, wurde das Massaker im Okzident totgeschwiegen. Dem folgte der Realismus gegenüber dem „fortschrittlichen“ Regime, das eine geschickte Außenpolitik führte und die Unterstützung der Sowjetunion suchte. Erst als die christlichen libanesischen Phalange-Milizen (Komplizen des israelischen Streitkräfte) im September desselben Jahres rund tausend palästinensische Flüchtlinge in Sabra und Schatila erschossen, regte die öffentliche Meinung sich im Westen, insbesondere in linken Kreisen. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an das Ergebnis des Massenmordes in den Flüchtlingslagern, die ich damals besuchte. Zwei Massaker, zwei sehr unterschiedliche Reaktionen.

Auch nach 1989 galt Syrien, das immer noch von der alawitischen Minderheit regiert wird, als Garantie gegen die Islamisten. Das Regime ist nicht völlig isoliert, sondern genießt einen gewissen Konsens. So erklärte mir ein angesehener syrischer Christ: „Die Alawiten sitzen zwar allein am Ruder, sie gewähren jedoch den Minderheiten Schutz.“ So wie die Christen denken auch die Drusen und Kurden. Gut sichtbar ist der Konsens in Alep, wo Tausende von Kurden und 300.000 Christen leben. Die Stadt ist ruhig, während das übrige Land sich gegen das Regime auflehnt.

Die Nähe schafft Verantwortung

Die sunnitische Bourgeoisie hat von Anfang an mit den Alawiten einen Kompromiss geschlossen. Aber was wird sie nun machen, wo doch die sunnitische Mehrheit den Aufstand anführt? Schließlich ist auch mit den schiitischen Ländern (Iran, Irak und Libanon) zu rechnen, für die Syrien einen wichtigen Kreuzungspunkt darstellt. Teheran könnte einen Verbündeten verlieren, der dem Iran religiös und politisch nahesteht (wie aus der Verbindung Syriens mit der libanesischen Hezbollah-Miliz zu erkennen ist).

Heute wähnen die Alawiten an der Macht keine andere Lösung zu haben als den Terror, wenn sie nicht die politische Monopolstellung verlieren und eine Abrechnung riskieren wollen. Sie schießen auf ihr eigenes Volk, das zum Großteil aus Sunniten besteht. In Ägypten schoss Mubarak nicht auf das Volk (und gab damit zu verstehen, dass seine Zeit abgelaufen war). Zählen die Syrer auf die westliche Gleichgültigkeit?

Die europäische Zivilgesellschaft steht den (schweren) Problemen außerhalb der Grenzen des Kontinents teilnahmslos gegenüber. Der Okzident kann gewiss nicht überall als Gendarm der Menschenrechte auftreten, aber Syrien ist ein Nachbar Europas und Israels. Diese Nähe schafft Verantwortung. Im breiten Spektrum zwischen militärischen Eingriffen (wie im Libanon) einerseits und Gleichgültigkeit andererseits gibt es eine Reihe von Optionen: Druck, Kontaktaufnahme, Suche nach Lösungen, Einschalten einflussreicher internationaler Akteure.

Die arabische Welt prägt das 21. Jahrhundert

Derzeit ist Syrien in zwei Lager gespalten. Den Menschen, die bereit sind ihr Leben für die Freiheit zu opfern, steht ein vor Angst gelähmtes, zukunftsloses Regime gegenüber, das nur auf Repression setzt. Wir brauchen Übergangsszenarien und müssen mit opportunen Entscheidungen zu verstehen geben, dass Terror völlig unakzeptabel ist. Nach einem Jahrzehnt, in dem der Islamismus im Mittelpunkte der internationalen Politik stand, öffnet sich endlich ein Horizont mit neuen Problemen, aber auch neuen Möglichkeiten.

Wir brauchen andere Kriterien, um die Realität zu interpretieren, und größere politische Verantwortung, von Seiten der Regierungen, aber auch von Seiten der Zivilgesellschaften und der politischen Bewegungen. Was derzeit in der arabischen Welt und im Mittelmeerraum abläuft, beeinflusst die geopolitischen Szenarien des 21. Jahrhunderts weit mehr als unsere heimischen Feuerwerke.

Aus dem Italienischen von Claudia Reinhardt

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