Paris, Oktober 2008 : Hossein, 17 Jahre. Seine Freunde machen Feuer im Square Villemin. © Jérémie Souteyrat

Auf der Suche nach einem besseren Leben

Tausende von einsamen afghanischen Jugendlichen bahnen sich ihren Weg durch Europa – ein Trend, der in den letzten zwei Jahren noch zugenommen hat, da die Bedingungen für afghanische Flüchtlinge in Ländern wie Pakistan oder dem Iran schwieriger werden. Die meisten von ihnen sind Teenager, manche sogar erst 12 Jahre alt. Sie suchen eine Ausbildung und eine Zukunft, die sie in ihrem eigenen Land nicht finden können, da es acht Jahre nach dem Ende der Taliban-Herrschaft immer noch gegen Armut und Gewalt ankämpft.

Veröffentlicht am 2 September 2009 um 15:11
Paris, Oktober 2008 : Hossein, 17 Jahre. Seine Freunde machen Feuer im Square Villemin. © Jérémie Souteyrat

Diese Jungen sind eine Herausforderung für die europäischen Länder, die zum Teil selbst Kampftruppen nach Afghanistan ausgesandt haben, deren Öffentlichkeit jedoch das Grundprinzip dieses Kriegs in Frage stellt. Obwohl jedes Land nach nationalem und internationalem Recht verpflichtet ist, für sie Sorge zu tragen, sind die Kosten dafür wieder ein neues Problem für einen Kontinent, der bereits mit zehntausenden von Migranten zurechtkommen muss.

In Rom wurden im Frühjahr 24 afghanische Jugendliche schlafend in einer Abwasserkanalisation entdeckt, letztes Jahr starben zwei Teenager in italienischen Häfen – einer unter einem Sattelanhänger in Venedig, ein anderer in einem Frachtcontainer in Ancona. In Griechenland, das nach eigenen Angaben mit Asylbewerbern aus vielen Ländern überschwemmt wird, gibt es kein Pflegeheimsystem für ausländische Minderjährige. Landesweit können – den Behörden zufolge – nur 300 von ihnen aufgenommen werden.

Und in Paris beantragten zum ersten Mal mehr afghanische als schwarzafrikanische unbegleitete Minderjährige ihre Anmeldung bei den Jugendschutzwerken, so Charlotte Aveline, eine leitende Jugendschutzbetreuerin bei der Stadtverwaltung."Manche kommen sehr niedergeschlagen und erschöpft hier an, doch wenn sie nur eine Woche bleiben, dann werden sie ganz schnell wieder zu Teenagern", erzählt Jean-Michel Centres von Les Exilés du 10e, einer Bürgerinitiative, die mit den größtenteils afghanischen Migranten arbeitet, die sich am Villemin-Platz in Nähe des Pariser Gare de l’Est zusammenfinden. "Zuerst fragen sie, wo sie Papiere bekommen können, dann, wo sie zur Schule gehen können, und wo sie danach einen Arbeitsplatz finden", sagt Centres. Die EU unterhält keine Statistiken über die Anzahl von ausländischen Kindern, die ohne ihre Familien durch Europa wandern, und die Unterlagen von Hilfsgruppen und Regierungsstellen weisen starke Unterschiede auf. Doch die Asylanträge von unbegleiteten afghanischen Minderjährigen deuten darauf hin, dass es europaweit Tausende von ihnen gibt. Experten zufolge liefern die Anträge nur eine Grundlage, da sehr viel mehr Jugendliche den Flüchtlingsstatus gar nicht beantragen.

Blanche Tax, eine Verantwortliche beim UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge in Brüssel, erklärte, dass letztes Jahr in Österreich, Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden und Deutschland 3090 afghanische Minderjährige um Asyl ersuchten. In diesen EU-Ländern stiegen die Zahlen am deutlichsten: Sie sind mehr als doppelt so hoch wie die 1489 Anträge in den gleichen Ländern im Jahr 2007. "Afghanistans Jugend blutet nach Europa aus", meint Pierre Henry, Leiter von France Terre d’Asile, einer Organisation, die in Asylbelangen mit der EU, der Flüchtlingsstelle der UNO und der französischen Regierung zusammenarbeitet.

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Die für diesen Artikel befragten afghanischen Jungen berichteten, dass sie als minderjährige Arbeitskräfte in Griechenland und in der Türkei ausgenutzt wurden und dass sie Schlägen von seiten der Polizei aus dem Weg gingen. Niemand wollte seinen Namen nennen, um freier sprechen zu können. Ein 17-Jähriger aus der afghanischen Stadt Ghazni erzählte, die Polizei habe wiederholt versucht, ihn und einen anderen Jungen aus Lastwagen im griechischen Hafen von Patras zu vertreiben, wo die Behörden am 12. Juli ein afghanisches Squatterlager zerstörten. In Frankreich angekommen, mussten die Jungen noch mehr durchmachen. Die Pariser Polizei hat nämlich begonnen, nachts den Villemin-Platz zu durchsuchen, damit die afghanischen Migranten dort nicht mehr übernachten. Ein 15-Jähriger wurde also in einem billigen Hotel untergebracht, während andere als Übergangslösung in eine unbenutzte Métro-Station gebracht wurden. Wieder andere finden alleine Obdach unter Brücken oder am Kanal.

Die vom Staat finanzierten Unterkünfte werden von France Terre d’Asile verwaltet. Die Initiative hilft den Jungen durch die Prozedur des Unterstützungsantrags beim französischen Jugendschutz, nimmt ihre Namen auf und erteilt ihnen Französischunterricht. "Wir hatten schon ein paar sehr gute Erfolge", berichtet Frau Aveline, die Beraterin von der Stadt.

Die für diesen Artikel befragten Jungen sagten, sie seien in einem Zwischenstadium und träumten davon, zur Schule zu gehen und ein normales Leben zu führen. Ein Teenager, der sich seit zwei Monaten in Paris aufhält, war offensichtlich sehr besorgt über das, was noch vor ihm liegt. "Wie soll ich meine Zukunft aufbauen?" fragte er. "Ich bin schon 15. Ich bin allein. Was kann ich tun?" Doch ein paar Tage später war er ganz aufgeregt, weil er mit France Terre d’Asile zum ersten Mal in seinem Leben ins Schwimmbad gegangen war. Er nahm auch Französischunterricht. Aus seiner Tasche zog er einen Stift und ein Blatt mit Bildern von verschiedenen Früchten. "Ich mag Bananen", sagte er auf französisch. "Ich mag Äpfel."

ASYLPOLITIK

Brüssel will Verantwortung teilen

Am 2. September will die EU-Kommission ihre Vorschläge zur Verstärkung der gemeinsamen Immigrationspolitik unterbreiten, berichtet die Trouw. Die niederländische Tageszeitung erinnert daran, dass derzeit "die Immigration in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, die zu diesem heiklen Thema nur ungern Macht an Brüssel abgeben". Die Kommission hätte gerne, dass die Staaten "die Verantwortung für die Immigration in stärkerem Ausmaß teilen, denn heute tragen Spanien, Italien, Griechenland und Malta – wo die meisten Einwanderer ankommen – die größte Last". Des Weiteren, so die Trouw, stellt die Kommission fest, "dass die begrenzten Aufnahmezahlen von Menschen, die aus durch Krieg und Armut stark getroffenen Gebieten stammen, dem Image der EU schaden". Die Kommission will Maßnahmen vorschlagen, um "vor allem die afrikanischen Einwanderer davon abzuschrecken, sich an Schlepper zu wenden und zu versuchen, Europa mit kleinen, gefährlichen Booten zu erreichen". Sie ist der Meinung, das einzige Mittel hierzu sei, mehr Einwanderer aufzunehmen. Zu diesem Zweck soll eine neue Institution entstehen: das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, das jedes Jahr eine Bestandaufnahme der verfügbaren Plätze in den verschiedenen Mitgliedsstaaten machen soll.

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