Eine Postkarte mt einer Szene aus François Esprit Aubers "Das stumme Mädchen von Portici"

Eine Stumme, die viel Lärm macht

Die Oper ist seit 1830 das Symbol der belgischen Einheit. Doch um La Muette de Portici heute zu sehen, muss man nach Paris fahren, denn in Brüssel könnte sie zum Opfer politischer Kontroversen werden.

Veröffentlicht am 29 August 2011 um 13:40
Eine Postkarte mt einer Szene aus François Esprit Aubers "Das stumme Mädchen von Portici"

In Belgien ist La Muette de Portici (dt.: Die Stumme von Portici) so gut wie jedem ein Begriff: die Oper, die 1830 die belgische Revolution auslöste. Doch kaum jemand hat sie gesehen. Das könnte sich allerdings bald ändern, denn in der nächsten Saison wird das Théâtre Royal de la Monnaie, das Brüsseler Opernhaus, sie erneut inszenieren. Nur soll die Aufführung nicht in Brüssel stattfinden, sondern in Paris, im Rahmen einer Kooperation mit der Opéra Comique.

Das sei eine ganz bewusste Entscheidung, erklärt der Direktor des Opernhauses, Peter De Caluwe. Die Oper derzeit in Brüssel aufzuführen, das wäre nicht nur ein künstlerisches Statement, sondern ein politisches Manifest, das in der aktuellen prekären politischen Situation als Plädoyer für die belgische Einheit interpretiert würde. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt“, meint Peter De Caluwe, „denn es ginge dann sofort darum, ob es ein einiges Belgien geben soll oder nicht. Ich will die Oper aus der Debatte herausnehmen.“

Der Schriftsteller Geert Van Istendael, der in der Grundschule Auszüge aus La Muette de Portici auswendig lernen musste, gibt Peter De Caluwe völlig recht. „Die Oper heute in Brüssel aufzuführen, inmitten des politischen Morasts, in dem wir derzeit stecken, das wäre wie ein Keulenschlag.“ Am 16. August wurden die Diskussionen über die Bildung der belgischen Regierung wieder aufgenommen. Das Misstrauen zwischen den flämischen und wallonischen Parteien ist derart groß, dass diese Verhandlungen nun schon 14 Monate dauern. Letzten Monat verurteilte König Albert, der selbst eines der letzten Symbole der belgischen Einheit ist, die kompromissunfähigen Politiker und warnte vor dem Poujadismus – eine Anspielung auf die französische populistische Bewegung der 50er Jahre. In einem derartigen Klima wird die Aufführung von La Muette de Portici als politischer Sprengstoff betrachtet.

Die Häuser hoher Würdenträger wurden angegriffen

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Wie kann eine Oper aus dem Jahr 1828 im Belgien von 2011 so ein heißes Eisen sein? Wie kommt es, dass La Muette de Portici des französischen Komponisten Daniel François Esprit Auber (1782-1871), mit einer stummen Frau als Titelfigur, zum Symbol für die Einheit eines durch linguistische Querelen gespaltenen Landes wurde?

Alles begann am 25. August 1830 im Théâtre de la Monnaie, als der französische Tenor Jean-François Lafeuillade während des dritten Akts der Oper „Aux armes!“ rief (dt.: Zu den Waffen). „Aux armes!“ Während es im Saal bereits schwelte. Wenige Augenblicke vorher, nach der mitreißenden Arie über die heilige Liebe zum Vaterland, hatte das Publikum lauthals von Lafeuillade eine Wiederholung verlangt. Nach seinem „Aux armes!“ soll der ganze Saal „Vive la liberté“ (Es lebe die Freiheit), „A bas le roi“ (Nieder mit dem König), Mort aux Hollandais (Tod den Holländern) und vielleicht sogar in beiden Sprachen „Vive la France, vivat de Franseëze“ gerufen haben.

An jenem Augustabend wurde die Oper zur Ehren des 59. Geburtstags des niederländischen Königs Wilhelm I. aufgeführt, der damals auch noch König der Belgier war. La Muette de Portici, eine sehr beliebte Oper, handelte von einem Volksaufstand gegen die Spanier im Neapel des 17. Jahrhunderts. Doch das Thema der Oper, der Aufstand, schwebte seit geraumer Zeit über den Straßen von Brüssel.

Wer weiß, was das Publikum im Brüsseler Opernhaus genau gerufen hat und ob das auf Anregung der Polizei oder aufgrund einer spontanen Zornaufwallung geschah. Jedenfalls wurde die Oper vor dem Ende abgebrochen, das Publikum ging auf die Straße hinaus und in dieser Nacht fand in Brüssel der erste Aufstand gegen die niederländische Regierung statt. Die Häuser hoher Würdenträger wurden angegriffen und in Brand gesteckt. Dann passierte alles sehr schnell: Der Aufstand griff auf den Rest des Landes über, im September fanden brutale Kämpfe statt und am 4. Oktober 1830 wurde Belgiens Unabhängigkeit ausgerufen.

„Eine skandalöse Zensur“

Dieser Abend im August 1830 machte La Muette de Portici zum Symbol des belgischen Aufstands gegen die niederländische Herrschaft. Und demzufolge auch zum Symbol für de belgische Einheit. Natürlich wurde der Einfluss von La Muette de Portici auf die Revolution romantisiert, gibt Geert Van Istendael zu. Im Sommer 1830 trafen andere Faktoren für das Auslösen einer Revolte zusammen: leere Mägen infolge einer schlechten Ernte und das Vorbild Frankreichs, wo im Juli eine Revolution stattgefunden hatte. „Aber Tatsache ist, dass an diesem Abend, in diesem Theater, einer gewissen Anzahl junger Bürger das Blut zu Kopfe gestiegen ist.“

Die Oper wurde noch 1930 im Théâtre de la Monnaie in Brüssel aufgeführt, anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Landes. Und ab September 1944 wurden 14 Vorstellungen gegeben, um die Befreiung Brüssels aus deutscher Hand zu feiern. Das war das letzte Mal, dass La Muette zu hören war. Eine Aufführung im Jahr 1980, zum 150. Jubiläum des Landes, musste im letzten Moment abgesagt werden, da extremistische Flamen Störungsabsichten bekundet hatten. Denn die Einheit Belgiens wollen sie eben nicht.

Im frankophonen Belgien versteht man nicht, warum la Muette nicht in Brüssel ins Programm genommen wird. „Eine skandalöse Zensur“, liest man im Internet. „Wir sollten zum Place de la Monnaie gehen und dort selbst eine Aufnahme von la Muette de Portici abspielen, zeitgleich mit der Aufführung in Paris!“ Da muss Direktor De Caluwe schmunzeln. „Wir wollten nächstes Jahr in Brüssel eine Konzertfassung geben, zur Feier der Renovierung des Place de la Monnaie, doch die Stadt hatte nicht die nötigen Mittel. Sehr borniert.“ Ein anderer Internetnutzer schließt: „Scheut man die Aufführung einer Oper, die zur Entstehung unseres Landes geführt hat, aus Angst, diejenigen zu verärgern, die Belgien verschwinden lassen wollen, dann ist dieses Land tatsächlich bereits verschwunden.“

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