Roxana Coman / Evenimentul Zilei.

Kitsch, ein Lebensstil

Mit einer Austellung kitschiger Alltagsgegenstände zeigen Bukarester Geschichtsstudenten warum die ehemalig kommunistischen Staaten bei ihrem EU-Beitritt einen "kulturellen Schock" erlitten haben.

Veröffentlicht am 19 Mai 2009 um 09:28
Roxana Coman / Evenimentul Zilei.

Ein Anker mit Ikonen, eine Nachtlicht-Uhr mit kleinen Engeln, eine Spieldose oder ein Strauß Plastikblumen – dies alles nahmen die Autoren der Ausstellung "Kitsch als Lebensstil" in die Kategorie Kitsch auf. Ebenfalls als solcher gebrandmarkt wurde auch der Palast von Gigi Becali, dem Eigentümer des Fußballvereins Steaua Bucarest, mit seinem riesigen goldenen Kruzifix, das über den Zaun hinweg zu sehen ist, oder die Kasinos in den historischen Gebäuden, die ganz weihnachtlich mit Lichterketten dekoriert sind.

Mihaela Pop, Referentin an der Fakultät für Philosophie der Universität Bukarest hat sich gemeinsam mit den Studenten der Geschichtsfakultät um die Organisation der Ausstellung bemüht und ist der Meinung, dass "Kitsch den einfachen Genuss ermöglicht, ohne Beanspruchung des Intellekts, und dabei das Authentische negiert". Doch der Kitsch hat auch eine soziale Funktion. "Kitschige Gegenstände werden von ihren Besitzern ausgesucht, um deren Status zu unterstreichen. Man kann dabei von einem 'Kitsch-Menschen' sprechen, von einer 'Kitsch-Mentalität', die auf einem unmittelbaren, anspruchlosen Glücksgefühl beruht, auf dem frenetischen Besitzwunsch nach so vielen Objekten wie nur möglich", erklärt sie weiter.

Im Ausstellungsumfang sind auch Fotos von Gegenständen enthalten, die man auf Jahrmärkten und Volksfesten findet: T-Shirts und Armbänder in schrillen Glanzfarben, rote Kerzen mit aufgeklebten Heiligenbildern, Papageien, Hasen sowie Teller mit dem Abbild der "Heiligen Familie" oder banale pausbäckige Putten.

"Der Kitsch neigt dazu, sich aggressiv in alle Lebensbereiche einzumischen, ob wir es nun wollen oder nicht", meint Roxana Coman, Geschichtsstudentin im dritten Studienjahr.

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Doch er ist nicht nur für die rumänische Gesellschaft bezeichnend. "Dieser Stil kommt in Zeiten schneller sozialer Veränderungen auf, wie bei uns seit den 90er Jahren. Die Menschen aus der kommunistischen Gesellschaft mussten innerhalb weniger Jahre Herausforderungen annehmen, denen die Westeuropäer schon seit 30 oder 40 Jahren ausgesetzt waren", so Pop. "Es ist ganz eindeutig, dass wir es hier seit dem EU-Beitritt mit einem Schock von zwei verschiedenen Kulturen zu tun haben, der diese ganzen Kitsch-Phänomene hervorruft."

Die Lösung angesichts des lawinenartigen Einbruchs an schlechtem Geschmack sieht Mihaela Pop in einer deutlichen Anti-Kitsch-Haltung, die auf einer ernst zu nehmenden Kultur basiert.

Die Ausstellung ist bis zum 2. Juni in der Geschichtsfakultät der Universität Bukarest zu sehen.

Eurovision

Gipfel des schlechten Geschmacks

Die osteuropäischen Länder sind nicht die einzigen, die dem Kitsch verfallen sind. Einmal im Jahr wird ganz Europa vom Fieber erfasst, nämlich zum Wettbewerb der Eurovision, meint der flämische Schriftsteller Oscar van den Boogaard. In der Tageszeitung De Standaard schreibt er: "Jedes Jahr denke ich mir, dass es kitschiger nicht mehr geht, und jedes Jahr überzeugt die Eurovision mich vom Gegenteil." In dieser "prahlerischen Verherrlichung des schlechten Geschmacks" sieht Van den Boogaard einen neuen Trend: "Niemandem scheint es mehr peinlich zu sein, Kitsch zu mögen (…) Aber ist das utopische Bild von Europa, welches die Eurovision uns zeichnet, nicht genauso kitschig wie der Wettbewerb selbst?"
Für ihn evoziert das Festival auch "was Europa sein könnte, wenn es etwas mehr Ehrgeiz hätte: ein großes Imperium verschiedener Kulturen, in dem die Sonne nie untergeht und welches sich vom Atlantischen Ozean Portugals bis nach Sibirien und vom Eismeer bis zu den Stränden des Roten Meeres erstreckt." Dem Schriftsteller nach verkörpert die Eurovision "den kindlichen Wunsch einer Welt, in der alle aus vollem Halse zusammen singen." Dennoch könnte die Eurovision einen politischen Einfluss haben, sollte man doch nicht ausschließen, dass sie eventuell "die Menschen dazu bringen könnte, zur Europawahl zu gehen."

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