Wenn nicht Suppenküche, dann die Reste aus den Abfällen, Thessaloniki, September 2011.

Das Frühstück aus der Tonne

Gerade kündigte die griechische Regierung neue Sparmaßnahmen an, um ihre Partner zu beruhigen und sich die sechste Rate des internationalen Rettungspakets zu sichern. In den Straßen Athens dagegen suchen immer mehr Menschen nach billigeren Lebensmitteln.

Veröffentlicht am 19 September 2011 um 14:58
Wenn nicht Suppenküche, dann die Reste aus den Abfällen, Thessaloniki, September 2011.

Ein in unserem Land bislang unbekanntes Phänomen greift in der Krise um sich: Immer mehr Menschen suchen im Müll nach etwas Essbarem. Früher taten das nur Roma und Obdachlose. Dann versuchten Einwanderer aus Asien oder Afrika so viele Dinge wie möglich in ihre Einkaufswägen zu packen. Nun sind es die Griechen, die den Müll durchsuchen. Viele suchen Dinge, die sie wieder verkaufen können. Andere all das, was essbar ist.

Samat Eftehar stammt aus dem Iran. Seit 25 Jahren gehört ihm eine Kneipe in Exarchia [einem Athener Stadtviertel]. “Noch ist es ein lebendiges kleines Viertel. Die meisten Bewohner kenne ich seit Jahren. Viele der Niedrigverdiener mussten noch mehr Gehaltskürzungen einstecken. Würdevolle Personen, die nun im Müll nach etwas Essbarem suchen müssen”, erzählt er.

Von Zeit zu Zeit gibt er einigen der Bedürftigen, die er kennt, etwas zu essen. “Ich glaube, dass das noch nicht alles war. Diese Tragödie ist noch lange nicht vorbei. Die Lage verschlechtert sich. Es gibt eine wirkliche Hungersnot”, meint Samat Eftehar. “Hungersnot heißt nicht: ‘Ich habe nichts mehr zu essen’ wie in Afrika. Für mich ist auch derjenige in Hungersnot, der sich nicht mal mehr einmal im Monat Fleisch leisten kann.”

In dieser Zeit der Rezession landen viele Lebensmittel im Müll. Jährlich werden 89 Millionen Tonnen Nahrungsmittel weggeworfen. In Europa sind das 180 Kilogramm pro Person. 43 Prozent davon stammen aus Familienhaushalten. Im Müll landet vor allem das, was angeblich nicht mehr haltbar ist.

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Giorgos Arabatzoglou arbeitet für den Reinigungsdienst der Gemeinde Pendeli, im Norden Athens: “Sogar in dieser wohlhabenden Vorstadt durchsuchen die Leute den Müll. Insbesondere wenn der Markt vorbei ist. In letzter Zeit hat sich das Phänomen immer mehr verbreitet”, erklärt er.

Auf der Suche nach dem jüngsten Verfallsdatum

“Ständig sieht man zerrissene Müllsäcke, was darauf schließen lässt, dass Menschen sie durchsuchen. Und neben den Supermärkten und Müllcontainern sind da noch die Souvláki-Verkäufer. Vor kurzem habe ich etwas gesehen, was mir vorher noch nie untergekommen ist: Vor einem Supermarkt suchte eine gutgekleidete junge Frau in einem Haufen abgelaufener Joghurtbecher nach dem jüngsten Verfallsdatum.”

Giannis Apostolopoulos, Stadtrat in Athen, stellt fest: “Auch wenn es das seit zehn Jahren gibt, hat das Phänomen doch seit eineinhalb Monaten zugenommen. Es fällt uns umso mehr auf, weil es uns unmittelbar betrifft. Es handelt sich um Niedrigrentner, deren Einkommen gesunken ist, und um Arbeitslose, die zuweilen sehr jung sind.” Seiner Aussage zufolge ist nicht nur Athen davon betroffen. “Das ist eine Tatsache. Nur das wir hier täglich eine Suppenküche veranstalten und die Menschen aus anderen Vierteln hierherkommen. Außerdem sind die Mülltonnen in Athen einfach voller.”

Seit Jahren fährt der vierzigjährige Dimitri die Müllkräne Athens. Er hat vier Kinder und im Abfall anderer eine Kommode für seinen Flur gefunden. “Ich hatte nicht einmal zehn Euro in der Tasche, um mir Zigaretten zu kaufen. Seit mehreren Monaten hat uns die Stadt kein Gehalt mehr bezahlt. Da sah ich die weggeworfenen Möbel im Viertel Aigaleo und nutzte die Gelegenheit. Einer meiner Kollegen sagte mir, ich solle sie nicht zu teuer verkaufen. Das erste Mal verdiente ich 60 Euro an nur zwei Nachmittagen!”

Dimitri hat sich inzwischen einen kleinen Lieferwagen gekauft. Wenn seine älteste Tochter Möbel auf der Straße sieht, ruft sie ihn an, damit er sie abholt. Die Garage in seinem Wohnblock hat sich in eine Werkstatt verwandelt [vor allem für Eisen und Kupfer]. “Monatlich verdiene ich damit 300 bis 400 Euro. Für mich bedeutet das vor allem, dass ich etwas Taschengeld habe.” Schrotthändler wie er tauchen immer häufiger auf… (jh)

Auf der Eins

Noch mehr Opfer

Wie die meisten griechischen Zeitungen kündigt auch To Ethnos seinen Lesern “Blut und Tränen” an und meint die von “der Regierung geplanten Entlassungen und die neue Gehaltskürzung im öffentlichen Dienst um 20 Prozent”. Damit reagiert Athen auf den Druck der Troika aus IWF, EZB und EU, die einen Plan zum Defizitabbau und Reformen forderten. Nur dann könne Griechenland die sechste Rate des Rettungspakets bekommen, das 2010 auf den Weg gebracht wurde. Die Zahlung dieser Kreditrate von acht Milliarden Euro ist für den Monat September geplant.

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