Ein ukrainischer Oppostionsanhänger vor einem Riesenplakat von Julia Timoschenko mit dem Slogan: "Keine politische Repression". Kiew, 6. September 2011.

Timoschenko, das Gas und das politische Kräftemessen

Am 27. September, drei Tage nach dem Besuch von Präsident Janukowytsch in Russland, wird der Prozess der ehemaligen Premierministerin fortgesetzt werden. Zwischen Kiew und Moskau findet nämlich ein entscheidendes Spiel statt, an dem auch Europa wesentlich beteiligt ist.

Veröffentlicht am 23 September 2011 um 16:01
Ein ukrainischer Oppostionsanhänger vor einem Riesenplakat von Julia Timoschenko mit dem Slogan: "Keine politische Repression". Kiew, 6. September 2011.

Am 5. August dieses Jahres ordnete Rodion Kireev, Vorsitzender des Gerichts von Kiew, die Inhaftierung der ehemaligen Premierministerin der Ukraine in der Zelle Nr. 242 der Haftanstalt Lukjaniwska in Kiew an und rief so den Zorn ihrer Sympathisanten und zahlreicher Politiker weltweit hervor. Julia Timoschenko, die sich selbst als postmoderne Inkarnation der Jeanne d’Arc oder der Berehynia, wunderbare Göttin und mythische Mutter der Ukraine, versteht, hat ihren Prozess zur Reality Show gemacht.

Der eindeutig politische Prozess von Julia Timoschenko könnte als traurige Bestätigung für den allmählichen Verfall der Demokratie in der Ukraine betrachtet werden. Im Grunde geht es jedoch um viel mehr. An der Ostgrenze der Europäischen Union tobt ein anderer strategischer Kampf, nämlich derjenige um die Zukunft von Westeuropa insgesamt. Ob die Ukraine, ein Land mit fast 50 Millionen Einwohnern, unter die Kontrolle Russlands oder in den Einflussbereich der EU fallen wird, wird entscheidend für das Schicksal der anderen Kleinstaaten Osteuropas – Republik Moldau, Belarus und Georgien - sein.

Der Prozess, dessen Urteil (7 Jahre Haft ohne Bewährung) laut Timoschenkos Anwalt bereits feststeht [die Gerichtsverhandlung soll am 27. September fortgesetzt werden] bereitet sowohl der EU als auch Russland Kopfzerbrechen.

Wie Zbigniew Brzezinski 1997 schrieb, ist die Ukraine für Russland eines der wichtigsten Gebiete. Ohne sie wäre Russland kein "eurasisches Reich" mehr. Durch die erneute Kontrolle über die Ukraine könnte Russland "ein mächtiges Reich werden, das Europa mit Asien verbindet". Das erklärt, warum Russland Präsident Wiktor Janukowytsch unerbittlich zur Unterzeichnung eines Abkommens über eine Zollunion drängt [ein Moskau-Besuch von Janukowytsch ist am 24. September geplant].

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Die Urkaine - ein strategisch wichtiges Gebiet

Zweifellos steht der Präsident der Ukraine Russland nahe, aber nicht nahe genug, um die Ukraine völlig aufzugeben. Um seine Beziehungen zu Russland ins Gleichgewicht zu bringen, hat er die "strategische Entscheidung" getroffen, sich der Europäischen Union anzunähern. Er ist entschlossen, beim Gipfeltreffen zwischen EU und Ukraine im Dezember ein historisches Freihandelsabkommen zu unterzeichnen. Russland hat ihm jedoch klar zu verstehen gegeben, dass er sich zwischen den beiden entscheiden muss.

So sieht die Lage in diesem Schachspiel, in dem Timoschenko nur eine Nebenrolle spielt, in groben Zügen aus. Eigenartigerweise steht ihr ehemaliger Feind, der russische Premierminister Vladimir Putin, mit dem sie 2009 einen Vertrag über Gaslieferungen schloss, auf ihrer Seite. Eben dieser Vertrag ist es, auf dem die Anschuldigungen gegen sie gründen. Die Ukraine bezahlt ihr Gas derzeit teurer als viele europäische Länder. Es ist logisch, dass Putin Timoschenko verteidigt, und durch sie auch sich selbst. Er ist wütend auf Janukowytsch und hält daran fest, dass dieser Vertrag völlig korrekt ist.

Durch die Anklage von Timoschenko machte sich Präsident Janukowytsch seine sämtlichen potenziellen Verbündeten zu Feinden. Die Beobachter versuchen, seine Beweggründe zu verstehen, finden jedoch keinerlei Logik. Es könnte einfach darum gehen, sich seiner wichtigsten Gegnerin bei den letzten Wahlen zu entledigen. Durch diesen Prozess stärkt er jedoch seine Position als Oppositionsführer noch.

Ein anderer, ebenso plausibler Grund könnte sein, dass er die Toleranzgrenzen der Europäischen Union gegenüber einem immer autoritäreren Regime testen möchte. Von Brüssel und den EU-Mitgliedern erhält er dafür jedoch nur Kritik.

Es droht ein neues Energiechaos wie im Januar 2009

Unabhängig von den Beweggründen, die zum Prozess von Timoschenko führten, könnte eine der ersten Folgen ein neues Energiechaos wie im Januar 2009 sein, als kein russisches Gas mehr durch die Pipelines in der Ukraine nach Europa befördert wurde und Länder wie Bulgarien und die Slowakei zu frieren begannen. Die Ukraine droht, aufgrund des Gaspreises ab Oktober beim internationalen Schiedsgerichtshof [der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht] in Stockholm gegen Russland vorzugehen.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte Janukowytsch bei Streitigkeiten mit Russland noch auf die Unterstützung der EU zählen, für die das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine sehr wichtig ist. Da Timoschenko (sowie Minister ihrer ehemaligen Regierung, von denen einer seit fast einem Jahr inhaftiert ist, ohne dass je ein Urteil gefällt wurde) jedoch in einen politischen Prozess verwickelt sind, ist alles anders. "Welches Signal gäbe die EU Nordafrika oder Belarus, wenn sie vor diesem Hintergrund ein Partnerschaftsabkommen unterzeichnen würde? ", fragt sich Analyst Nico Lange in der Financial Times.

Europa könnte sein Interesse an der Ukraine verlieren

Durch den Prozess Timoschenkos machte Janukowytsch seine Position sowohl in der Ukraine als auch im Ausland aus unverständlichen Gründen komplizierter. Beobachter aus der Ukraine sind sich einig, dass Timoschenko bereits gewonnen hat, egal wie der Prozess ausgeht. Ihr (politischer) Stern begann zu verblassen, und bei Umfragen sprachen sich nur 10 % der Befragten für ihre Partei "Vaterland" aus. Heute steht sie jedoch erneut im Rampenlicht, und die gespaltene Opposition diskutiert bereits über einen Zusammenschluss im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Oktober 2012.

Timoschenko ist davon überzeugt, dass die Umstände, die Zeit und die Unvernunft von Janukowytsch sich zu ihren Gunsten auswirken werden. Vielleicht hat sie Recht – genau kann das niemand wissen. Eines ist jedoch sicher: die Umstände, die Zeit und die Unvernunft von Janukowytsch wirken sich zu Ungunsten der gesamten Ukraine und ihrer Zukunft in Europa aus. Denn Europa könnte so endgültig das Interesse an einem Land verlieren, in dem sich die Demokratie trotz drei aufeinanderfolgender Wahlen nicht durchsetzen konnte. (ae)

Aus Sicht von Kiew

Die EU ist Timoschenko etwas schuldig

"Seit einigen Wochen wird Kiew geradezu von Erklärungen und Warnungen unserer europäischen Partnerländer überflutet", stellt Dzerkalo Tyzhniafest. "Die Europäer nehmen kein Blatt vor den Mund: Sollte sich die Situation nicht ändern, wird der Ratifizierungsprozess eines Freihandelsabkommens zwischen der Ukraine und der EU ausgesetzt."

"Derzeit möchte die EU das geplante Abkommen in ihrem eigenen Interesse und im Hinblick auf ihre Sicherheit beibehalten", so die ukrainische Tageszeitung, denn die Gaspipelines der Ukraine "sind ein wichtiger Faktor für die europäische Sicherheit". Denn "seitdem Europa im Winter 2008-2009 vom eisigen Schreckgespenst einer Gasknappheit heimgesucht wurde, sind die Europäer bestrebt, derartige Situationen zu vermeiden. So verfolgen sie sehr aufmerksam den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine um die mögliche Änderung der Gasverträge von 2009.

Günther Oettinger, EU-Kommissar für Energie, hat sich bereit erklärt, zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. Über die Einzelheiten dieser europäischen Unterstützung soll beim Besuch Oettingers in Kiew am 30. September erneut diskutiert werden. Bleibt zu klären, "wie Europa im Falle der Verurteilung Timoschenkos reagieren wird. Wird sich die Europäische Union mit einer Verurteilung, gefolgt von einer Haftentlassung begnügen, was bedeuten würde, dass Julia Timoschenko in Zukunft nicht mehr wählbar wäre? Die EU muss also reagieren, vor allem, da die Europäer überzeugt sind, Timoschenko etwas schuldig zu sein. Im Winter 2008-2009 hatte die EU nämlich an sie als Premierministerin appelliert, um Kiew zur schnellstmöglichen Ratifizierung eines Gasabkommens mit Moskau zu bewegen."

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