Titel der europäischen Presse vom 18. September 2009. © Presseurop

Wieder Angst vor Russland

Die Entscheidung Barack Obamas, das von George Bush versprochene Verteidigungssystem in Polen und in der Tschechischen Republik nun doch nicht einzurichten, wurde von beiden Länder nicht sehr gut aufgenommen. Die Presse zeigt sich besorgt über den Einfluss Moskaus in dieser Region.

Veröffentlicht am 18 September 2009 um 16:36
Titel der europäischen Presse vom 18. September 2009. © Presseurop

Barack Obama kündigte es den beiden Staatschefs telefonisch an. Das von der Bush-Regierung im Jahr 2007 angeleierte Projekt, in Polen und in der Tschechischen Republik einen Raketenschutzschild einzurichten, wird vom neuen US-Präsidenten abgebrochen. Dieser Entschluss ist für die meisten europäischen Länder sowie für Russland zufriedenstellend, denn das Thema war eine Spannungsquelle zwischen der NATO und Moskau, in Osteuropa ist man jedoch alles andere als erfreut.

"Mobiler Schutzschild, es wird keine US-Basis geben", titelt die Gazeta Wyborcza in Warschau. "Es wird keinen Radar geben, Russland hat gewonnen", fügt die Mladá Fronta DNES in Prag hinzu, während die Evenimentul Zilei in Bukarest bedauert, dass die Vereinigten Staaten Osteuropa "um Russlands willen verraten". Die Hospodářské Noviny ihrerseits bemerkt den Symbolwert dieses "Verrats", genau zum Zeitpunkt, da der 70. Jahrestag des russischen Einfalls in Polen 1939 zelebriert wird, welcher allgemein als der erste Schritt zur Eingliederung Polens und der Tschechischen Republik jenseits des eisernen Vorhangs betrachtet wird.

Weder hysterisch noch russophob

"Die Erwähnung des großen russischen Appetits auf Osteuropa ist kein abgehobenes Paranoia-Geschwätz", erklärt die MF DNES. Man brauche nur an die letztmonatige Ausweisung zweier russischer Diplomaten denken. Dass die Gefahr des russischen Einflusses in der Tschechischen Republik durchaus real sei, meint auch die Hospodářské Noviny. "Ohne hysterisch oder russophob sein zu wollen: Wir haben gute Gründe dafür, Russland zu fürchten. Die Demokratie gehört nicht zu den in seiner Tradition verankerten Grundwerten und seine Regierung verschweigt nicht, dass sie Osteuropa gerne wieder unter ihre Fittiche bringen will", erinnert die Zeitung und zitiert den ehemaligen Präsidenten Václav Havel: "Russland weiß nicht, wo es anfängt und wo es endet." Die Tschechische Republik muss sich darauf vorbereiten, "die russische Präsenz viel stärker zu verspüren als wenn es einen amerikanischen Raketenschutzschild gäbe", schließt die Prager Tageszeitung.

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Aus Warschauer Sicht "sollte der Schutzschild der letzte Beweis dafür sein, dass sich Polen aus dem sowjetischen Einflussgebiet befreit hatte, eine Sicherheitsgarantie, die mehr wert war als alle NATO-Abkommen zusammen", ironisiert die Tageszeitung Polska. "Er sollte die Inthronisierung der Polen und ihres Landes als Lieblinge Amerikas in Europa werden. Diese Schwärmerei für Amerika drückte sich in – glücklicherweise nur vorübergehende – Spannungen zwischen Warschau und den anderen europäischen Hauptstädten aus." Doch mit dem abgeblasenen Schutzschild sieht es nun so aus, dass "Osteuropa auf Obamas Prioritätenliste in die zweite Liga abgestiegen ist".

Diplomatischer Sieg für Moskau

"Zum ersten Mal seit 20 Jahren haben die USA öffentlich auf Kosten Osteuropas den besseren Beziehungen zu Russland den Vorzug gegeben", betont in der Gazeta Wyborcza Wess Mitchell, der Leiter des Center for European Policy Analysis in Washington. "Ein unilaterales Zugeständnis an Russland ist weder für Russland noch für unsere Alliierten gut", meint der amerikanische Analyst und betont, dass Moskau hiermit seinen größten diplomatischen Sieg seit Ende des Kalten Kriegs davongetragen habe, was es dazu ermutigen könne, "agressivere Schritte in der Region" zu unternehmen. Angesichts der steigenden Spannungen könnten auch die osteuropäischen Länder neue Garantien von seiten der NATO verlangen, was innerhalb des Bündnisses zu Reibereien führen könne.

Bei den Partnern der Polen und Tschechen sind die Reaktionen positiver. "Obama setzt auf Entspannung mit Moskau", titelt Le Figaround sieht den Abbruch des Raketenschutzschild-Projekts als "eine ausgezeichnete Neuigkeit für alle, die eine Beruhigung der transatlantischen Beziehungen wünschen". Jenseits des Atlantiks findet die New York Times, Obama habe "eine vernünftige strategische Entscheidung" getroffen, und erinnert daran, dass "George Bushs Projekt aus drei Gründen falsch war". "Die Technologie war noch lange nicht ausgereift", die als Rechtfertigung des Schutzschildes angeführte Bedrohung durch den Iran stand nicht unmittelbar bevor und Russland nutzte die Gelegenheit, um seiner Verantwortung gegenüber dem Iran zu entkommen. Doch nun, so die amerikanische Tageszeitung weiter, "wird der Umgang mit Osteuropas Enttäuschung viel Fingerspitzengefühl erfordern".

Ob eine Geste von Seiten Russlands die beunruhigten Osteuropäer besänftigen könne? Der Daily Telegraph kündigt an, dass Russland als erste Reaktion auf den amerikanischen Beschluss alle seine Absichten, Raketen in Kaliningrad an der Grenze zu Polen und Litauen zu stationieren, auf Eis gelegt hat. Eine Folgeerscheinung, die "völlig logisch und vielleicht vorhersehbar" sei, so der Daily Telegraph, und auch ein Beweis, dass "der Kreml seine Hilfsbereitschaft zeigen will".

Mehr Rücksicht auf Mitteleuropa in der Nato

Obama habe da reichlich Möglichkeiten, meint die Süddeutsche Zeitung. "Die USA könnten den Osteuropäern nun etwa lang erbetene Luftabwehrsysteme liefern, die tatsächlich einen Gewinn an Sicherheit bringen. Sie können in der Nato darauf hinwirken, dass Polen, Tschechen und andere sich des Beistands der Verbündeten versichert fühlen. Die Nato kann gemeinsame Manöver in diesen Ländern abhalten, wenn nötig auch Stützpunkte errichten. Auch sollte das Bündnis bei der Arbeit an seinem neuen strategischen Konzept und der Verteidigungsplanung die Bedrohungswahrnehmung der Osteuropäer berücksichtigen." Die Bundesregierung mit guten Beziehungen zum Kreml und als wichtigster Nachbar Polen und Tschechiens könnte dem US-Präsidenten dabei helfen, lautet der Vorschlag der Münchner Tageszeitung.

Prag und Warschau werden ebenfalls ihre internationale Stellung überdenken müssen, warntdie Respekt. Die Prager Wochenzeitung ist der Meinung, dass "anstatt sich zu fragen, ob uns die Amerikaner wie 1938 die Alliierten in München verraten haben, die Tschechische Republik nun die Gelegenheit hat, sich zu überlegen, wie sie die Verankerung finden kann, die sie im westlichen Wirkungsfeld stabilisiert. Vielleicht werden wir merken, dass dies im Kampf gegen die Korruption und in der Festigung der Gleichheit aller vor dem Gesetz liegen könnte."

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