unknows Debatte

Die verkümmernde Demokratie?

Veröffentlicht am 26 Oktober 2012 um 11:13

Die Staats- und Regierungschefs sind wie gelähmt. So nehmen sich andere Organe — Europäische Zentralbank, Bundesverfassungsgericht, Europäischer Gerichtshof — der europäischen Angelegenheiten an. Ein Rückschlag für die Demokratie, den es zu beheben gilt, meint ein französischer Politologe.

Kann man das aktuelle Paradox der europäischen Demokratie besser ausdrücken, als mit der Feststellung, dass ihr Schicksal [in den vergangenen Wochen] an den Beschlüssen der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Bundesverfassungsgerichts hing? Wenn die europäischen Politiker schon selbst davon überzeugt sind, dass sie weder die Macht noch die Legitimität besitzen, um den „Kampf um die Glaubwürdigkeit“ der Länder gegenüber den Finanzmärkten zu gewinnen, und sich bereit erklären, ihren Handlungsspielraum „unabhängigen Organe“ und „automatischen Sanktionen“ zu überlassen, dann übernehmen (nationale und europäische) Richter und Notenbankpräsidenten die Führungsrollen in europäischen Angelegenheiten.

Mehr noch: Wie mit einer symbolischen Rollenumkehrung sind es nun die „Unabhängigen“, die die Debatte über die Zukunft der politischen Union führen. Ihr Interventionsbereich übersteigt bei weitem die funktionelle Legitimität ihrer ursprünglichen Mandate. So gingen beispielsweise die EZB-Banker nach der „Preisstabilität“ rasch dazu über, „Strukturreformen“ (des Arbeitsmarkts, Lohnzurückhaltung, usw...) einzufordern. Und vor kurzem erst luden sie sich in die zentrale Debatte über die Architektur der künftigen politischen Union ein...wenn sie sich nicht gar in die Erstellung der kommenden Verträge einmischen, wie es derzeit beim gemeinsamen Papier der „vier Weisen“ — EU-Ratspräsident, EU-Kommissionspräsident, Präsident der Eurogruppe... und EZB-Präsident — der Fall ist.

Nachhilfe in Demokratie

Gipfel der Ironie: die „Unabhängigen“ halten sich nicht mehr zurück und erinnern die Staaten an ihre demokratischen Pflichten. Waren es nicht Bundesbankpräsident Jens Weidmann und sein Kollege der EZB, Mario Draghi, die mehrfach betonten, man müsse mit den neuen institutionellen Regelungen auch die „demokratische Rechenschaftspflicht“ stärken? War nicht das deutsche Bundesverfassungsgericht mehrmals das letzte Bollwerk, um die Rechte des Bundestags zu wahren? Und so weiter...

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Trotz zweier Jahrzehnte, in denen aktiv an einer Stärkung des EU-Parlaments gearbeitet wurde, scheint alles darauf hinauszulaufen, dass die demokratische Legitimität schwindet, während die apolitischen Organe — Gerichte, Zentralbanken, Aufsichtsbehörden, usw. — ihr solides Fundament ausbauen. Die Liste der Befugnisse, welche von den demokratisch gewählten Volksvertretern an die „unabhängigen“ Institutionen abgegeben werden, wird immer länger.

So gesehen wird es schwierig die Selbstsicherheit eines José Manuel Barroso zu teilen, der noch im vergangenen Juni beim G20-Gipfel meinte, Europa brauche von den Schwellenländern „keine Nachhilfe in Sachen Demokratie“. Wer immer „einen Kurswechsel bei der europäischen Integration“ wünsche, täte gut daran, von der — realistischeren — Feststellung einer verkümmernden Demokratie auszugehen. Daher reicht die bloße Einführung der Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten — wie von der deutschen Diplomatie gefordert — auch nicht aus, um der europäischen Politik als Ganzes einen neuen Impuls zu geben. Sie könnte sich sogar als Trugbild herausstellen, wenn — wie von den deutschen Konservativen eifrig gefordert — die Wahl mit zusätzlichen Übertragungen von Befugnissen an die EZB oder den Europäischen Gerichtshof einhergehen sollte.

Knacken geschlossener Systeme

Ein Neuentwurf für eine politische Union sollte sich also prioritär daran machen, neue Formen der demokratischen Kontrolle der „unabhängigen“ Institutionen zu erfinden. Es ist sicherlich zu spät, deren Zuständigkeiten zu beschneiden, aber man kann die beiden Säulen, auf denen ihre Macht beruht, durchaus überdenken: einerseits die Idee der Unabhängigkeit, um Abstand zu den verschiedenen Einzelinteressen zu halten, andererseits der Anspruch auf ein gewisses Maß an wissenschaftlicher Objektivität bei Diagnosen und Urteilen.

Zum ersten Punkt: Die Einführung einer Form der Repräsentativität von Sozialpartnern und politischen Minderheiten könnte eine wahre „Unabhängigkeit“ ermöglichen, indem verhindert würde, dass bestimmte Gruppen, Lager oder Ideologien sich die diese neuen Räume der EU-Politik einverleiben. Nur Pluralismus ist in der Lage, die untrennbar technischen wie politischen Debatten so zu erweitern, dass sie über den engen Kreis der Juristen und Ökonomen hinausgehen.

Und das ist der zweite Punkt: Eben weil die Regierungen die Mitglieder dieser Institutionen ernennen, haben sie noch die Mittel in der Hand, um diese geschlossenen Systeme zu knacken. Einzig unter dieser Bedingung werden die demokratischen Institutionen Europas — an erster Stelle das Europaparlament — nicht zu einer optischen Illusion verkümmern.

Aus dem Französischen von Angela Eumann.

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