unknows Frankreich

Kein gutes Klima

Veröffentlicht am 17 Juni 2013 um 13:47

Angesichts der allgemeinen Aufregung, die momentan in Frankreich herrscht, ist es nicht erstaunlich, dass der Mord an dem 19-jährigen Antifaschisten Clément Méric bei einer Auseinandersetzung mit einer rechtsextremen Gruppierung sofort extrem politisiert wurde. Nicht nur von Mérics Genossen, die in ganz Frankreich Demonstrationen mit dem Slogan „No pasarán“ [„Sie werden nicht durchkommen“] organisierten, sondern von sämtlichen wichtigen Kommunikationsmedien, die allesamt die hitzige Debatte um die Problematik der „Ehe für alle“ [gleichgeschlechtliche Ehe], von der sozialistischen Regierung unter lautstarken Straßenprotesten der Konservativen eingeführt, für die „Welle der Gewalt“ verantwortlich machten.

„Wenn es nicht einen Toten gegeben hätte, wäre dieser Beginn eine komische Szene“, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Am 5. Juni war Méric mit einigen Antifa-Genossen zu einem Sonderverkauf von Fred-Perry-Kleidung in der Rue du Caumartin gegangen und sah beim Stöbern unter den T-Shirts auf einmal ein keltisches Kreuz vor sich (die englische Marke ist sowohl bei rechten als auch bei linken Skinheads beliebt). „Was andernorts in gegenseitigem Ignorieren, allenfalls in Sprüchen und Schubsen geendet hätte, führte in Paris zum Tod eines Jungen“, so die FAZ. " Die schiere Panik, mit der man in Paris auf diesen Vorfall reagierte, ist ein Zeichen für die Dramatik der politischen Lage in Frankreich.“

Die Polemik um die gleichgeschlechtliche Ehe hat die Spannungen tatsächlich noch verstärkt, ist aber auch das Ergebnis dieser Spannungen. Ich bin seit etwa einem Monat in Paris und habe schon mehrere Auswanderer von der spürbar angespannten Lage in der Stadt reden gehört (für gewöhnlich ist sie sehr entspannt). Die Franzosen machen ihrem Ärger Luft, an Verkehrskreuzungen, in Cafés, im Treppenhaus, sie ärgern sich auch über den anscheinend nicht enden wollende Regen, den „printemps pourri“, den ausbleibenden Frühling, der zum allgemeinen Gesprächsstoff geworden und seit Wochen auf den Titelseiten der Zeitungen zu finden ist. Abgesehen davon ist ihr Ärger jedoch auch auf einen immer offensichtlicheren Nationalfrust zurückzuführen.

Frankreichs Prestige steht auf dem Spiel. François Hollande war aufgrund seines Versprechens gewählt worden, Deutschland die Stirn zu bieten und die Anti-Sparkurs-Front zu einen, doch er verstand sofort, dass die Zeit dafür ungünstig war, und schlug Angela Merkel gegenüber einen versöhnlicheren Ton an. Inzwischen war jedoch das Bild vom deutsch-französischen Gespann dahin, durch das unter Sarkozy noch der Schein eines Frankreichs gewahrt werden konnte, das mit dem deutschen Gegenspieler gleichauf war, was die Führung Europas anbelangte. Berlin hat öffentlich seine Sorge bezüglich der Stabilität der französischen Wirtschaft geäußert, ein Affront, der in Frankreich sehr schlecht aufgenommen wurde, doch was soll man tun: weiter andauernde Rezession, steigende Arbeitslosigkeit, beängstigende Staatsverschuldung. Hollandes ist der unbeliebteste Präsident in der Geschichte der Republik.

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Ein Jahr vor den Europawahlen zweifeln viele aus den Reihen des [sozialdemokratischen] Parti Socialiste am Nutzen der Zugeständnisse: Der linke Flügel der Partei fordert nunmehr ganz offen eine Ablehnung des Fiskalpaktes und einen Konfrontationskurs mit den Sparkursbefürwortern aus dem nördlicheren Europa. Doch auch die [konservative] UMP wird zum Europawahltermin nicht in bester Verfassung sein: Der Kampf zwischen Jean-François Fillon und François Copé um die Nachfolge Sarkozys entscheidet sich erst bei den Vorwahlen 2016, und der gemäßigte, europafreundliche Flügel um den ehemaligen Premierminister wird die Traditionalisten um den aktuellen Parteichef, die sich auf das Terrain der [rechten] Front National begeben möchten, nur schwer kontrollieren können. Letzten Umfragen zufolge liegt die Front National von Marine Le Pen bei 18 Prozent, praktisch gleichauf mit den beiden großen Parteien.

Die Wirtschafts- und Sozialkrise und die Machtlosigkeit der Politik, welcher aufgrund der europäischen Verpflichtungen und der Unnachgiebigkeit Deutschlands die Hände gebunden sind, zehren zusehends am Vertrauen in die traditionellen Parteien und in das bipolare System. Doch im Gegensatz zur Situation in Italien wird in Frankreich der Druck der Systemgegner nicht von einer harmlosen und zur Selbstvernichtung verurteilten Partei wie der Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos absorbiert: Auf der einen Seite steht die Linksfront Jean-Luc Mélenchons, der Hollande im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen gehörig Angst gemacht hatte, auf der anderen Seite die Front National, die sich immer mehr bereit fühlt, an die Macht zu gelangen. Beide setzen gänzlich auf den Frust über die gemäßigten Politiker, „tous pourris“, alle verdorben, alle schlecht, wie das unerträgliche Wetter dieser Tage.

Sollte es, wie Sarkozy gemeint hatte, nach den Europawahlen zu einer Spaltung der UMP kommen, ist es durchaus möglich, dass der Flügel um Copé auf Le-Pen-Kurs geht: Ziel Le Pens sind die Präsidentschaftswahlen, sie wird jedoch der extremen Rechten verbunden bleiben. Vor diesem Hintergrund ist der berühmte Durchschnittswähler demokratischer Gesinnung von immer geringerem Interesse, der politische Diskurs wird immer extremer, und es ist immer lohnender, von radikalen Lösungen zu sprechen, deren Praxistauglichkeit erst 2017 erprobt wird. Ganz zu schweigen davon, dass der politische Konfrontationskurs süße Erinnerungen an eine Zeit weckt, in der Frankreich noch die „Grande Nation“ war.

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