Voxeurop community Loretta Napoleoni um Terrorismus

„Europa ist nicht in der Lage, die Dschihadisten auf seinem Boden zu bekämpfen“

Veröffentlicht am 30 März 2015 um 08:47

Für die Expertin für Terrorismus und dessen Finanzströme ist ISIS keine direkte Bedrohung unseres Kontinents, sie ist aber der Meinung, dass die Europäer weder finanziell noch juristisch in der Lage sind, diese radikalisierten Jugendlichen und erfahrenen Kämpfer im Nahen Osten zu bekämpfen.

Welche Bedrohung stellt ISIS, die Organisation des so genannten Islamischen Staats (IS) für Europa dar?

Die wesentliche Bedrohung sind die europäischen Dschihadisten, die in den Nahen Osten gereist sind und nach Europa zurückkehren, um dort Attentate zu verüben – ein relativ neues Phänomen. Lange Zeit stammten die ausländischen Kämpfer der ISIS im Irak und in Syrien von der arabischen Halbinsel und aus Afrika. Seit ISIS aber im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen hat, hat ISIS viele Kämpfer in Europa rekrutiert. Dies ist vor allem das Verdienst der riesigen Rekrutierungskampagne mit vielen spektakulären Videos – wie zum Beispiel das von drei jungen Briten, die mit den Vorzügen des Dschihad und ihrer eigenen Unterstützung der islamistischen Kämpfer prahlen – und stützt sich auf den Erfolg und das Vordringen in Irak und in Syrien. Hinzu kommt die Verbreitung durch westliche Medien, die – bewusst oder unbewusst – als Resonanzraum für die dschihadistische Propaganda dienten. ISIS erscheint ihnen daher als etablierte Macht und übt auf potentielle junge Dschihadisten aus Europa eine noch größere Faszination aus.

Weiß man, wie viele Dschihadisten aus Syrien und Libyen nach Europa zurückgekehrt sind?

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Die genaue Zahl ist nicht bekannt, aber die meisten aus Syrien zurückgekehrten Dschihadisten findet man im Norden Europas, vor allem in Belgien. Die Zahl der Kämpfer, die bereits zurückgekehrt sind oder zurückkehren möchten und aus verschiedenen Gründen im Nahen Osten festsitzen, wird hier auf 120 geschätzt.
Im Moment stellen die zurückgekehrten Kämpfer jedoch kein großes oder zumindest nicht das Hauptproblem dar: ISIS bemüht sich, Bagdad einzunehmen, und solange die Hauptstadt des Irak nicht eingenommen ist und der IS sich nicht konsolidiert hat, ist die Frage der Rückkehr von Dschihadisten nach Europa zweitrangig. Im Gegenzug wird sich das Problem stellen, sobald ISIS der Meinung ist, die Ziele hinsichtlich der Eroberung von Gebieten erreicht zu haben, aber eher deshalb, weil das Leben im „Kalifat“ für europäische Dschihadisten relativ uninteressant sein dürfte und nicht wegen eines tatsächlichen Plans, den Dschihad nach Europa zu „exportieren“. Ähnlich wie in Saudi-Arabien ist das Leben im selbst ernannten Kalifat für junge Menschen, die im Westen aufgewachsen sind, eher langweilig: soziales Leben findet außerhalb der Privatwohnungen fast nicht statt, Männer werden streng von Frauen getrennt und die meisten Unterhaltungsangebote sind verboten. Aus dem gleichen Grund darf man auch nicht annehmen, dass diese jungen Leute von der Aussicht motiviert werden, endlich unter dem „wahren Islam“ zu leben: Die jungen europäischen Dschihadisten sind keine Asketen, die nicht trinken, nicht rauchen, usw. Was sie anzieht, ist der Kampf gegen einen Unterdrücker – das syrische, irakische oder libysche Regime – und die Einrichtung einer islamischen politischen Utopie wie sie von der Muslimbruderschaft, später von Al-Kaida und weiteren formuliert wurde. Aber sobald diese Utopie realisiert ist wollen diese Jugendlichen wahrscheinlich nach Europa zurückkehren.

Mit welchem Ziel?

Nicht, um ein friedliches Leben zu führen: In ihren Herkunftsländern sind sie eine Randgruppe, daher verspüren sie noch immer einen starken Drang sich zu rächen, wie der Fall der traurigen Berühmtheit „Jihadi John“ zeigt. Der radikalisierte ehemalige britische Student, der für mehrere durch ISIS in Szene gesetzte Enthauptungen von Geiseln verantwortlich ist. Dass sie den Kampf zu Hause fortsetzen möchten, ist daher sehr wahrscheinlich. Dann sind da noch diejenigen, die fortgegangen sind und dann feststellen mussten, dass sie einen Fehler gemacht haben. Sie werden vermutlich unauffällig bleiben, sobald sie wieder in Europa sind.

Wie reagieren die europäischen Länder auf diese Aussichten?

Sehr schlecht, weil sie einfach kein Geld haben. Das Problem der europäischen Terrorismusbekämpfung ist vor allem wirtschaftlicher Natur: Die personellen und technischen Mittel die zur Überwachung europäischer Dschihadisten verfügbar sind, stehen in keinem Verhältnis zu deren Anzahl. Die europäischen Sicherheitskräfte versuchen, ihre Rückkehr nach Europa zu verhindern, dies wirft aber rechtliche und politische Probleme auf: Es ist fast unmöglich, die Rückkehr eines Staatsbürgers mit einem Pass des jeweiligen Landes in das Hoheitsgebiet zu verhindern und zu beweisen, dass er in Syrien, im Irak oder in Libyen war und dort gekämpft hat. Hinzu kommt, das mehrere europäische Länder derzeit Kämpfer bewaffnen, die ISIS in Syrien bekämpfen sollen, wie soll man sie voneinander unterscheiden? Diese Frage erfordert daher eine politische Lösung: Personen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich, vor allem wenn sie noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzen. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie in Syrien festgehalten werden.
Aus diesem Grund wäre ein internationales Übereinkommen über ein Verfahren erforderlich, das denjenigen, die in ihr Land zurückkehren und sich resozialisieren möchten – gewissermaßen den „Aussteigern“ des Dschihad – eine Möglichkeit gibt, dies auf sichere Art und Weise zu tun. Ich war kürzlich in Belgien und hatte dort die Gelegenheit, mit politischen Vertretern zu sprechen, die mir berichteten, dass die meisten Belgier, die aus Syrien zurückkehren – meist sehr junge Erwachsene – erkannt haben, dass sie eine Dummheit begangen haben und ihre Taten bereuen. Sie haben aber auch Angst, bei ihrer Rückkehr belangt zu werden. Um ihre Wiedereingliederung zu fördern ist daher unbedingt ein Verfahren erforderlich, das ihre Rückkehr erleichtert.

Und was geschieht mit denjenigen, die nach Europa zurückkehren möchten, um Attentate zu verüben?

Diejenigen, die zum Kämpfen in den Irak, nach Syrien oder nach Libyen gegangen sind und davon überzeugt waren, nicht zurückzukehren. Wenn sie zurückkehren, werden sie engmaschig überwacht. Die wirkliche Gefahr sind vielmehr Personen wie die Attentäter von Kopenhagen oder Ottawa, die nicht als Kämpfer im Nahen Osten waren. Sie hinterlassen keine Spuren, solange sie nicht aktiv werden. Sie haben sich oft in Universitäten oder kleinen Moscheen radikalisiert, die der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte entgehen. Auch in den Gefängnissen findet Radikalisierung statt – wie man an den Attentätern von Kopenhagen gesehen hat. Die wirkliche Gefahr geht daher von den vielen muslimischen Jugendlichen aus, die in Europa geboren sind und dort leben und die sich über soziale Netzwerke, Videos, Skype oder islamistische Websites radikalisieren. Sie handeln alle aus unterschiedlichen Gründen, wie die Attentate von Paris und Kopenhagen gezeigt haben, die jeweils von unterschiedlichen Gruppen beansprucht wurden – von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel, ISIS und Gaza. Allen gemeinsam ist die Frustration über ihre Lebensumstände, die sie als gegenüber ihren Landsleuten schlechter empfinden, ebenso die Bewunderung für ISIS, die aufgrund ihrer militärischen Erfolge in Syrien und vor allem im Irak und dank einer sorgfältig orchestrierten Propaganda auf sie die Anziehungskraft der Macht ausübt. ISIS weiß sehr genau, wie die Menschen im Westen reagieren und welche Schwächen sie haben. Die Aufregung, die die Zerstörung der archäologischen Schätze im Museum von Mossul und der Überreste der antiken Städte [Nimrud](https: // www.youtube.com/watch?v=0PC0gefXRrc) und Hatra bei uns ausgelöst hat, ist hierfür der beste Beweis. Das Mysterium, das die Führungsriege des IS und dessen Finanzierung umgibt, fördert die Entstehung von Legenden über ihren Einfluss und ihre Kontrolle und trägt zur Faszination auf radikalisierte junge Menschen bei.

Weiß man, über wie viel Geld ISIS verfügt und woher es stammt?

Man weiß nur sehr wenig, da ISIS in einem geschlossenen Wirtschaftskreislauf operiert. Es gibt Schmuggel und Geld aus der Plünderung der Banken von Mossul: das „BIP“ des IS wird zwischen 2 und 4-5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Diese Schätzungen basieren auf Informationen die der IS absichtlich verbreitet hat, mithilfe von Dokumenten, die nach meiner Auffassung absichtlich so platziert wurden, dass sie gefunden werden mussten. Die Summen erscheinen riesig, aber ich erinnere mich, dass die CIA in den 1990 er Jahren das „BIP“ der PLO, die zu dieser Zeit ebenfalls als Terrororganisation galt, in den besetzten palästinensischen Gebieten auf 8-12 Milliarden US-Dollar schätzte. Im Gegensatz zur PLO ist ISIS wesentlich weniger korrupt und besser verwaltet.

Betreffen die Finanzkreisläufe auch Europa oder sind sie auf den Nahen Osten und die arabische Welt beschränkt?

Der IS wird aus der ganzen Welt finanziert, vor allem aus den Golfstaaten. Die ausländischen Kämpfer erhalten Geld von ihren Verwandten (Eltern, Freunde und Unterstützer), aber dies sind kleine Summen – unter 300 US-Dollar, diese Geldströme werden nicht überwacht – die sehr wahrscheinlich über Western Union oder das islamische Transfersystem Hawala laufen. Dieses Geld geht nicht an den IS sondern an den jeweiligen Dschihadisten, der es innerhalb des IS ausgibt und anschließend aus diesen Einnahmen – wenn auch geringfügig – entlohnt wird.

Können die europäischen Länder weiterhin mit Ländern zusammenarbeiten, die ISIS finanzieren?

Sie müssten ihre Außenpolitik ändern: Die Karte des Nahen Ostens muss neu gezeichnet werden, denn sie ist eine Hinterlassenschaft des kalten Kriegs und gehört in eine Welt, die es nicht mehr gibt. Das Scheitern des „arabischen Frühlings“ und der westlichen Intervention in Libyen zeigt uns, dass diese Karte mit Blut neu gezeichnet werden wird. Die größte Gefahr für Europa sind nicht die Dschihadisten, die aus dem Nahen Osten zurückkehren: es ist das Ende des Handels mit dem südöstlichen Mittelmeerraum und die Gefahr für den Handel mit Asien, die aus der Eroberung des Jemen, der den Zugang zum Roten Meer kontrolliert, durch dem Westen feindlich gesinnte Kräfte entsteht. Hinzu kommt die Piraterie: Freizeitsegler und Fähren im Mittelmeer sind Überfällen von Piraten aus Libyen ausgesetzt.

Gerade in Libyen scheint ISIS den europäischen Küsten bis auf wenige hundert Kilometer nahe gekommen zu sein.

ISIS selbst ist nicht in Libyen: es existiert nur eine kleine Abordnung, die politische Beziehungen zu den ortsansässigen dschihadistischen Gruppen aufbauen soll. Bisher basierten die Beziehungen von ISIS auf dem Waffenhandel, denn im Irak und in Libyen befinden sich die zwei größten Waffenarsenale, die den Dschihadisten in den letzten Jahren in die Hände gefallen sind.
Die Situation in Libyen, wo derzeit über 1700 bewaffnete Gruppierungen aller Ausrichtungen gezählt werden, unterscheidet sich von Syrien und vom Irak. ISIS dürfte die gleiche Strategie anwenden wie im Irak zwischen 2011 und 2013: die verschiedenen Gruppen eine nach der anderen unterwerfen oder zerstören, bis auf dem gesamten Territorium nur noch eine Organisation existiert. Das ist jedoch ein langwieriger Prozess und in einem im wesentlichen aus Stammesgebieten bestehenden und zerstückelten Land wie Libyen komplizierter umzusetzen.
Wahrscheinlicher als die Entwicklung wie in Syrien, wo jede Fraktion einen Teil des Territoriums kontrolliert, ist, dass Libyen sich wie Somalia zu einem „gescheiterten Staat“ (failed state) entwickelt.

Vor kurzem veröffentlichte El País einen Artikel in dem behauptet wird, dass die Dschihadisten die Situation in Libyen ausnutzen wollen, um sich unter die Flüchtlinge zu mischen, die per Schiff in Europa ankommen, um dort Anschläge zu verüben. Scheint Ihnen das plausibel?

Nein, denn die Überfahrt in Flüchtlingsschiffen ist extrem gefährlich, und sobald man in Europa angekommen ist, wird man in Flüchtlingslager gepfercht. Darüber hinaus ist der Transport von Waffen ein Problem, denn diese blieben nicht unentdeckt. Warum sollten sie außerdem nach Europa kommen wollen – dort gibt es doch bereits zahlreiche potentielle Terroristen. Warum sollte ein libyscher Dschihadist das Mittelmeer überqueren, um in Madrid eine Bombe zu legen? Das ist völlig sinnlos. Die Dschihadisten möchten sich die natürlichen Ressourcen ihrer Länder sichern und dann vor Ort ihr eigenes Rechtssystem einführen.

Das heißt also, dass die Propaganda von ISIS eher der Rekrutierung von westlichen Kämpfern in Syrien, im Irak und in Libyen dient als dem Export des Dschihad in den Westen?

Absolut. Und es funktioniert, wie man an der zunehmenden Zahl von Kämpfern sieht, die Europa in den letzten Monaten verlassen haben. Außerdem dient die Propaganda des IS dazu, uns zu terrorisieren. Die letzten Angriffe waren nicht so spektakulär und mörderisch wie der 11. September, sie hatten aber auf unsere kollektive Wahrnehmung und unsere Gesellschaften den gleichen Effekt. Diese Leute wissen sehr genau, wie man die westlichen Medien zur Verbreitung ihrer Propaganda nutzt. Es genügt, die Auswirkungen des Attentats auf Charlie Hebdo auf die öffentliche Meinung zu betrachten, die durch die Übertreibungen skrupelloser Medien auf der Suche nach sensationellen Informationen verstärkt wurden – manchmal auf Kosten der Wahrheit. Die Wirkung auf ungebildete und frustrierte junge Menschen ist noch wesentlich stärker.

Deutsche Übersetzung von Heike Kurtz, DVÜD

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