Auslese: Kopflose Politik

Veröffentlicht am 18 März 2011 um 16:41

Das deutsche Atomkraft-Moratorium und die Entscheidung, sieben Alt-Meiler vom Netz zu nehmen stößt bei Deutschlands Nachbarn auf Unverständnis. Ungewohnt hart geht Trouw mit der deutschen Regierung ins Gericht: „In Japan vollzieht sich gerade eine atomare Katastrophe. Kein Zweifel. Aber es ist noch zu früh um zu sagen, welche Lehren aus ihr gezogen werden müssen. Und der Panik-Fußball, den Deutschland sehen lässt, ist völlig unangebracht.

In dieser Lage ist ein kühler Kopf wichtig. Stattdessen kündigte Angela Merkel an, dass alle älteren Atomkraftwerke während der Sicherheitsüberprüfung vom Netz genommen würden. Das ist Unsinn. Diese Entscheidung kann allemal Angst und Misstrauen nähren.“ Mehr nicht, findet *Trouw*.

„Kopfloses Huhn“ Westerwelle

„Gibt es drüben in Deutschland etwa Erdbeben? Oder Tsunamis?“ fragt der Daily Telegraph. Der Editorialist des britischen Blatts hat Guido Westerwelle auf der BBC über die japanische „Apokalypse“ und die angestrebte europäische Energiewende reden hören und nennt den deutschen Außenminister ein „kopfloses Huhn“. „Herr Westerwelle speit Stuss. Gefährlichen Stuss. Die deutsche Regierung mag der Ansicht sein, jetzt nach der Nase der mächtigen grünen Bewegung im Land tanzen zu müssen. Aber damit tut sie der Welt im Allgemeinen – und Japan im Besonderen – keinen Gefallen.“

Aber, so erkennt der Economist, Merkel ist Regierungschefin eines atomfeindlichen Landes. „Dieser Artikel über die Auswirkungen der japanischen Katastrophe auf Deutschland will Erdbeben-, Tsunami oder Atom-Metaphern vermeiden, aber einfach wird das nicht. Deutschland ist sogar in den ruhigsten Zeiten hypersensibel für die nukleare Gefahr“, liest man im Newsbook des Londoner Nachrichtenmagazins. „Das Land hat eine muntere Anti-Atomkraftbewegung. Auch bürgerliche Wähler misstrauen der nuklearen Energie. Offene Feindseligkeit war der Aufstiegsmotor der oppositionellen Grünen. Und jetzt, da der Reaktor in Fukushima Radioaktivität spuckt, verliert Merkel ihren Mut. Fragt man die studierte Physikerin, warum sie das Risiko jetzt anders beurteilt, so windet sie sich. Für sie ist vor allem das politische Risiko gestiegen.“

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„Rationale Argumente verpuffen wie das Kühlwasser der Reaktoren“

Ihm atomfreundlichen Tschechien hört sich die Risikoanalyse dann auch deutlich anders an. „Unnötige Hysterie um die Kernkraft“,titelt Hospodářské noviny. Da nähmen die Deutschen ihre Alt-Meiler vom Netz, und EU-Energiekommissar Günther Oettinger stelle die Kernkraft in ganz Europa auf den Prüfstein. „Die rationalen Argumente verpuffen wie das Kühlwasser der Reaktoren.“ Dabei sprächen die Tatsachen, so teilt das Prager Wirtschaftsblatt mit, eine andere Sprache. Hospodářské stützt sich auf eine OECD-Studie, welche die Risiken der Kernkraft und anderer Energiequellen miteinander vergleicht und zu folgendem Ergebnis kommt: „Atomenergie ist am sichersten“. Zwischen 1969 und 2000 habe Wasserkraft die meisten Opfer gefordert. „Ein Unfall in Verbindung mit fossilen Brennstoffen (Kohle, Gas, Öl) oder Wasser soll zehnmal wahrscheinlicher sein als ein Atomunfall.“ In der Politik, so schreibt Hospodářské noviny, sollte doch bitte der Verstand die Oberhand behalten.

„Angela Merkel ist Meister der Panikmache“, bestätigt [Libérations Brüssel-Korrespondent Jean Quatremer in seinem Blog](http:// http://bruxelles.blogs.liberation.fr/coulisses/2011/03/angela-merkel-la-chanceli%C3%A8re-nucl%C3%A9aire.html). „Letztes Jahr hat sie mit ihrem zögerlichen Verhalten kräftig dazu beigetragen, dass aus der Griechenlandkrise eine Systemkrise der Eurozone wurde. Und nun hat sie gerade aus der japanischen Atomkatastrophe, einer gewiss schlimmen, aber lokalen Krise, eine weltweite Krise der Atomkraft gemacht. In Europa löst sie einen Tsunami aus, die Atomenergie steht jetzt unter Generalverdacht, und ihre Partner sind in größter Verlegenheit.

Aber um die Ironie der Geschichte voll zu erfassen, soll daran erinnert sein, das Merkel zu den europäischen Regierungschefs gehört, die schwerstes Geschütz gegen harte Umweltauflagen für ihre Industrie auffuhren. Wieder einmal führt Angela Merkel uns vor, dass sie Pi mal Daumen regiert, immer entlang des Seelenzustands ihrer Bevölkerung.“

„Papiermaske - die deutsche Burka“

Und wer interessiert sich noch für Libyen? In Warschau lässt die Gazeta Wyborcza den Autor Janusz Rudnicki zu Wort kommen. Der wohnt in Hamburg, und will vor lauter Wut über die Prioritäten der Deutschen nicht mehr vor die Tür. „Gaddafi ist es wurscht, was die Welt ihm schüchtern mitteilen will – im Schutz des nuklearen Regenschirms macht er mit seinem „wir bringen das jetzt zu Ende“ weiter. Das kann er, weil die Welt unfähig ist, zwei TV-Sender gleichzeitig zu gucken. Diese unglückliche Situation, dieses schlechte Timing wird Libyen in sein dunkles, stinkendes Bohrloch zurückwerfen, wo das Land bis zu seinem elenden Ende vor sich hin vegetieren wird.

Aber in Deutschland heißt das große Problem Atomkraft und Jodtabletten. Die Deutschen wollen ihre Atommeiler vom Netz nehmen, auch wenn auf der anderen Seite der Grenze Dutzende Atom-Meiler in heiklerem Zustand stehen. Die Verkaufszahlen von Jodtabletten und Geigermessern sind hier hochgeschossen. Ich würde den Deutschen raten, schnell Papiermasken zu kaufen. Die können sie dann gleich einer deutschen Burka tragen. Oder besser, sie sollten gleich jetzt in ihre Atombunker hinabsteigen. Dann könnte ich durch die leere Stadt spazieren. Und niemand wird da sein, der mich ankotzt!“

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