Paolo Rumiz: „Europas Herz schlägt im Osten“

Veröffentlicht am 4 August 2011 um 15:33

Für den Autor von Die Grenzen Europas* kann man nur noch in manchen postkommunistischen Ländern und an den Außengrenzen der Union auf die Seele des Alten Kontinents treffen.

Sie sind Sie auf die Idee gekommen, die östlichen Grenzen der Europäischen Union zu bereisen?

PAOLO RUMIZ : Ich suchte eine echte Grenze. Ich komme aus Triest und bin ein Kind der Grenze. Ich bin genau an dem Tag geboren, als die Grenze rund um Triest errichtet wurde, am 20. Dezember 1947. Sie wurde dann am 60. Jahrestag abgeschafft beim Inkrafttreten des Schengener Abkommens, also am Tag meines 60. Geburtstags. An jenem Tag haben meine polnische Lebensgefährtin die Fotografin Monika Bulaj und ich uns in die Augen gesehen und uns gesagt: „Sechzig Jahre lang wollten wir die Grenzen öffnen, jetzt wo sie offen sind, was bleibt uns da noch zu tun?“ Es war eine wunderbare Aufforderung zum Reisen: Wo gibt es heute noch die geheimnisvolle Aura der Grenzen?“ An jenem Tag —etwas beschwipst und aufgekratzt — sägten wir an einer Schranke an der jugoslawischen Grenze, mitten im Wald des Rosandra-Tals, wo sich die letzte Herberge vor der jugoslawischen Grenze befand, und da beschloss ich, dass ich auf die Suche nach einer echten Grenze gehen würde: einen Ort mit echten Grenzsoldaten.

Und haben Sie welche gefunden ?

Und ob! Stellen Sie sich einmal vor: Hätte ich diese Reise vor fünfundzwanzig Jahren gemacht, hätte ich um nach Slowenien einzureisen nie meinen Pass vorzeigen müssen, denn ich wäre im Gebiet des Warschauer Pakts und der ehemaligen Sowjetunion geblieben. Nun aber verlies ich kontinuierlich den Schengen-Raum und die Europäische Union — vor allem zwischen Norwegen und Russland oder zwischen Lettland und Russland, und ich fand unglaublich rigide Grenzen vor, schlimmer noch als vor dem Mauerfall. Ich wollte sehen, was sich hinter den Schranken, hinter diesen Barrieren befindet. Man erkennt rasch, dass es keine Unterschiede vor und hinter den Grenzen gibt, trotz der absurden Schranken, und dass die Außengrenze der Europäischen Union eine Reihe von Regionen durchquert, die wunderbare Namen tragen wie Kurland Lettland und Bothnien Skandinavien oder Dobrudscha Rumänien/Bulgarien. Es gab diese Regionen schon vor dem nationalistischen Fieber des 19. Jahrhunderts. Sie sind das wahre Herz des Kontinents.

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Man sagt, das geografische Zentrum Europas befände sich irgendwo im Westen der Ukraine...

Europa besitzt mehrere Mittelpunkte: einen in Litauen, einen in den Karpaten, einen in Polen... das hängt davon ab, wie man Europa vermessen will. Eines ist aber sicher, Europa ist höher als breiter. Die Zentrum Europas ist bis dato ein blasser Abklatsch des Westens, obwohl man dort auch starke Spuren des Orients finden kann. Dieser Mix aus Slawischem und Jüdischem ist die eigentliche Seele Europas. Und den habe ich nur in diesen Grenzregionen angefunden. Dort schlägt für mich das Herz Europas, so wie ich es mir vorstellte, und so wie ich es suchte: diese gewisse Weiblichkeit, Mütterlichkeit, diese riesigen Ströme: die habe ich in Russland, in der Ukraine und in Polen gefunden.

Ihre Erzählung zeugt von einer quasi maßlosen Liebe für den slawischen Geist und Lebensstil der Menschen, die Sie getroffen haben. Und von einer Art Ekel gegenüber gewissen Aspekten Westeuropas. Was ist das Problem mit Westeuropa?

Es ist eine homogenere, falsche Welt aus Zelluloid, wo die Zeit immer schneller vergeht und in einem Wasserfall aus E-Mails und SMS versinkt, eine Welt, in der man den Kontakt zur Erde verloren hat — „Zemlja“ wie man auf Russisch sagt, ein Wort, das mich wie das Wort „Voda“, Wasser, während meiner ganzen Reise begleitet hat.

In Ihrem Buch preisen Sie die Authentizität der Bewohner dieser Grenzregionen. Dabei wünschen sich viele von ihnen nichts anderes, als in Westeuropa zu leben oder zumindest den westeuropäischen Lifestyle anzunehmen.

Sicher, das darf man nicht vergessen. Ich will ihnen zwar nicht sagen, dass sie auf dem Holzweg sind, aber dennoch kann man behaupten, dass auf unserer Seite der Grenze auch nicht alles rosig ist. Die Älteren sind sich dessen bewusst: Sie haben begriffen, dass die zwischenmenschliche Solidarität unter den jungen Westeuropäern nicht mehr existiert.

Sie sprechen in Ihrem Buch oft von der „slawischen Seele“. Wie würden Sie die definieren?

Die Slawen sind sich bewusst, dass sie den Kontinent nicht im Hirn, sondern im Bauch haben. Sie lassen ihren Instinkten freien Lauf, was manchmal zu einer unfassbaren Aggressivität führt, aber auch zu einer unvergesslichen Zärtlichkeit in anderen Situationen. In meinem Buch erzähle ich von einer Szene, wo in Minsk eine Gruppe junger Frauen zu einem Akkordeonspieler gegangen ist. Sie sagten: „Los Igor, bring uns zum Weinen!“ So etwas würde ein Westeuropäer nie tun. Er hätte eher ein Liedchen verlangt, um die Vergänglichkeit seiner unsinnigen Existenz zu vergessen. Genau das mag ich bei den Slawen: das Dunkle gehört zum Leben dazu, diese Melancholie.

Hat der Beitritt eines Dutzend exkommunistischer Länder die EU verändert?

Ja, denn sie haben eine bemerkenswerte Portion Nationalismus gebracht. Die Polen sind in dieser Hinsicht ganz katastrophal: dieses Gefühl der leidenden Volkes, dass sich dem kommunistischen Moloch widersetzt hat. Die Polen haben den Nationalismus nach dem Ende der Nationalismen wiederentdeckt. Das ist in Polen fast krankhaft. Ein selbstzentriertes Weltbild. Was nach dem Absturz im April 2010 bei Smolensk der Präsidentenmaschine passierte, ist da beispielhaft: Nur nicht vor den Russen als Dummköpfe dastehen!

In Ihrem Buch scheinen Sie den europäischen Institutionen Vorwürfe zu machen...

Ich werfe Europa und Italien vor, dass sie schlafen und nicht merken, wie die nationalistischen und zentrifugalen Kräfte den Kontinent zerreißen. Wie haben nicht die Lehren aus dem Balkan gezogen: Es reicht heute einer orientierungslosen Öffentlichkeit einen Feind zu benennen, und schon nimmt sie ihn als solchen an. Heute könnte eine scheiternde politische Führung ohne Schwierigkeiten aus einem politischen Kampf einen ethnischen machen. Wir haben nicht mehr die Antikörper gegen den Faschismus. Wir haben aber auch nicht mehr die Antikörper der Kritik. In dieser Hinsicht ist Italien — aber auch Belgien — eine Risikozone. Man findet dort eine erbitterte regionalistische Viktimisierung vor, eine Form des Ressentiments der Peripherie gegenüber der Mitte.

Aux frontières de l'Europe, erschienen auf Französisch bei Hoebeke.

Das Gespräch führte Gian Paolo Accardo.

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