Die große „föderalistische Verschwörung“

Veröffentlicht am 8 Juni 2012 um 14:52

Mit dem Fiasko der Formel „Rettungspaket plus Sparen“, die bis dato zur Bewältigung der Eurokrise angewandt wurde, hat sich im Laufe der vergangenen Woche eine Überzeugung durchgesetzt, die zunehmend geteilt wird: Der einzige Weg, um der lahmen Währungsgemeinschaft wieder auf die Beine zu helfen, ist, ihr die Beine zu geben, die ihr fehlen — unter anderem aufgrund des Vetos der Bürger.

So geschehen bei der Ablehnung des ersten Entwurfs einer EU-Verfassung bei den Volksentscheiden 2005 in Frankreich und den Niederlanden. Mit anderen Worten, eine Fiskal- und Bankenunion. Um diese zu erreichen, kommen wir nicht um eine mehr oder minder umfassende politische Union herum. Die Vereinigten Staaten von Europa, die bisher ins Reich der Legenden gehörten, würden Wirklichkeit.

In der Zwischenzeit kursieren auf Blogs wie auch zuverlässigeren Quellen Verschwörungstheorien, die im Wesentlichen folgendes besagen: Wenn die Sparpolitik und die Furcht vor dem Zusammenbruch eines Großteils der Wirtschaft notwendig sind, um den Widerstand der Wählerschaft zu brechen und den entscheidenden Schritt vorwärts zu machen, der seit 60 Jahren blockiert wird, wäre es dann möglich, dass die europäischen Eliten bewusst die Eurokrise so „gemanagt“ haben, dass sie sie vier Jahre lang ausufern ließen, um sich dann in der allgemeinen Panik die berühmt-berüchtigte Formel TINA zunutze zu machen — there’s no alternative, es gibt keine Alternative?

Der britische Historiker Niall Ferguson ist davon überzeugt: „Ich glaube, die Architekten der Währungsunion wussten von Anfang an, dass ihr Modell [unvollkommen und ohne Rückzugsklausel] zu einer Krise führen würde, und die Krise wiederum zu mehr Föderalismus“, erklärte er jüngst in einem Interview mit der Sunday Times, dass Il Foglio zitiert. „Es war die einzige Weg, den Föderalismus zu bekommen“.

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Die Theorie des „notwendigen Schocks“ ist ein Klassiker der Gegenkultur. Von den Verdächtigungen rund um den Angriff auf Pearl Harbor bis zum 11. September: wurden zahlreiche Bestseller zu diesem Thema verfasst, wie zuletzt Die Schock-Strategie von Naomi Klein. Doch wird sie auch von Stimmen geteilt, die über jeden Verdacht erhaben sind, wie beispielsweise Jean Monnet.

In den Fünfzigerjahren, mitten in den Turbulenzen der beginnenden europäischen Konstruktion, gab der verehrte Wegbereiter der Union einen Aphorismus zum Besten, der in die Annalen eingehen sollte: „Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit, und die Notwendigkeit nur dann, wenn sie vor einer Krise stehen“ (Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, Hansa-Verlag). Worte, die im Licht der aktuellen Ereignisse von einer unheimlichen Klarsicht sind. Monnet war der Vorreiter der europäischen Technokraten, doch seine Verwaltungs-Utopie stieß rasch an die Grenzen der Politik. Aber heute scheint der Stunde der Technokraten erneut zu schlagen. Monnet könnte durchaus seine Revanche bekommen.

Erst die künftigen Historiker-Generationen werden etablieren können, wie viel Wahres in diesen Theorien steckt. Doch selbst wenn es ein solches Kalkül geben sollte, es bleibt eine hohe Hürde, die es zu überwinden gilt: den Widerstand der Deutschen, die bisher weitgehend von der Krise im Euroraum verschont geblieben sind. Es ist möglich, sollte sich die Krise derart verschlimmern, dass selbst die solideste Volkswirtschaft des Kontinents in Mitleidenschaft gezogen wird, dass die Mauern, welche die Deutschen um ihr Vermögen gebaut haben, brüchig werden. Dann werden auch sie die bittere Pille einer „Transferunion“ schlucken. Aber in diesem Fall gäbe es keinen Grund, zur Feier der neuen Vereinigten Staaten von Europa die Champagnerkorken knallen zu lassen.

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