Ein Deutschland nach amerikanischem Vorbild

Veröffentlicht am 14 September 2012 um 14:19

Es ist allseits bekannt, dass Angela Merkel die mächtigste Frau der Welt ist. Und ihr Land das mächtigste der Europäischen Union. Ohne Deutschland ist nichts möglich, vor allem, wenn es heißt, die maroden Partner zu retten. Aus diesem Grunde war das Ereignis der Woche auch nicht die Rede José Manuel Barrosos, wie bedeutend auch immer sie war, sondern derEntscheid des Bundesverfassungsgericht zum ESM.

Ohne ein „Ja“ der Karlsruher Richter, keine Rettung für Griechenland, Spanien oder Italien, hieß es. So hing das mögliche Schicksal von mindestens 117 Millionen Europäern an der Entscheidung von 8 Richtern eines anderen Landes ab, und dies aufgrund einer Entwicklung, von der die meisten nichts ahnen. Eine Entwicklung, die zusammenhängt mit den Veränderungen in Deutschland sowohl im innerdeutschen politischen Betrieb als auch in der Beziehung des Landes zum Rest der Welt. Eine Entwicklung, die man als „amerikanisch“ bezeichnen könnte.

In der gleichen Weise, wie das Handeln oder die Tatenlosigkeit der Vereinigten Staaten Folgen auf den Lauf der Welt haben, folgt Europa heute im Wesentlichen einem Tempo, das in Berlin bestimmt wird. Und ebenso, wie die Aktion des US-Präsidenten oftmals vom Kongress behindert wird, dessen Abstimmungsverhalten meist nationalen oder gar lokalen Strategien folgt, oder vom Druck der Lobbys, ebenso sieht sich die Bundeskanzlerin immer mehr mit einem Bundestag konfrontiert, dessen Mitglieder an die Strategie für die nächste Landtagswahl, für ihre Partei oder für bestimmte wirtschaftliche Gruppen denken Der Abgeordnete aus Bayern wird für Europa, was der Senator aus dem Mittleren Westen für die Welt ist: Ein Volksvertreter, dessen Entscheidungen weit über die Landesgrenzen hinaus Folgen haben, dessen Weltanschauung aber, je mehr sein Ärger über die angeblichen Fehler der anderen Europäer wächst, sich immer mehr reduziert.

Und schließlich: Ebenso wie der Oberste Gerichthof die letzte Instanz der politischen und kulturellen Auseinandersetzung in den Vereinigten Staaten ist (Sozialhilfe, Schusswaffen oder Abtreibung), ebenso werden die Karlsruher Richter zu den Schlichtern der innenpolitischen Machtkämpfe der Bundesrepublik. Kaum verwunderlich im Land eines Jürgen Habermas, dem Theoretiker des Verfassungspatriotismus. Und hier tritt ein Paradox zu Tage, dass — wieder einmal —über den Fall Deutschland hinausgeht.

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Die Richter wurden im Namen der Demokratie aufgerufen, die Debatte zu entscheiden, da die Kläger meinten, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) untergrabe die Haushaltshoheit des Parlaments, der Volksvertretung. Sie urteilten im Namen des Gesetzes und warfen den Ball den Politikern zurück, denn sie entschieden, dass der Bundestag jeder Erhöhung des ESM zustimmen müsse. Auf die zentrale Frage der Entscheidungsfindung und der demokratischen Kontrolle antworten die Deutschen mit einem prekären Gleichgewicht aus Politik und Justiz, was aber de facto die anderen Europäer ausschließt. Doch immerhin wird dort die Diskussion zu Ende geführt.

Nun sind alle Volksvertreter und Politiker der Union gefragt, die Herausforderung anzunehmen, um für die Union ein wirkliches System des Gleichgewichts von Politik und demokratischer Kontrolle zu schaffen, damit Deutschland— wie oftmals die Vereinigten Staaten —weder zur aufsässigen (und abgekapselten) Führungsmacht, noch zum Sündenbock unserer eigenen Ohnmacht wird.

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