Am 23. Juni treffen die Briten eine der wichtigsten Entscheidungen ihrer jüngsten Geschichte. Sie sind aufgerufen, über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abzustimmen und werden damit auch über die Zukunft ihres Landes – und der EU – für mindestens eine Generation entscheiden.
Deshalb hätten sie sich eine der Entscheidung würdige Kampagne erwarten dürfen – eine Kampagne mit Pädagogik vonseiten der Brexit-Gegner „Remain“ genauso wie vonseiten der Brexit-Befürworter „Leave.“ Beide Positionen sind legitim und auf beiden Seiten mangelt es nicht an Argumenten.
Unserer Meinung nach sollte „Remain“ gewinnen, am besten mit einem großen Vorsprung: Einerseits aus symbolischen Gründen (ein Brexit wäre ein harter Schlag für den Aufbau der EU, dem es bereits schlecht geht; und ein fürchterliches politisches Zeichen nach außen), und andererseits weil ein Brexit eine Reihe an negativen Folgen für die Wirtschaft und die Freiheiten in Europa und Großbritannien hätte.
Weit entfernt von einer Kampagne die diesen Namen verdient hätte, haben wir stattdessen entfesselte Leidenschaften beobachten können – ein Spektakel nahe des Irrationalen, vor allem auf der „Leave“-Seite, die von der politischen Figur und Ambition des früheren Bürgermeisters von London, Boris Johnson, dominiert wurde. Die Brexit Kampagne schreckte nicht davor zurück, falsche Argumente – wie Beiträge Großbritanniens zum EU-Budget, die EU-Immigration oder das Versprechen, einer wiedergefundenen Unabhängigkeit und Größe – zu verwenden, um eine wenig und schlecht informierte öffentliche Meinung und Presse zu beeinflussen.
Auf Seite der „Remain“ Kampagne konnten David Cameron – einst ein scharfer Kritiker Brüssels – und der Oppositionschef Jeremy Corbyn aufgrund ihrer Zweckehe dem Argument nicht entkommen, dass die EU „den Eliten dient.“ Die anti-Brexit Koalition schaffte es außerdem nicht, die Themen der Kampagne vorzugeben, sowie einen Elan zu erzeugen, der über Pragmatismus hinausgeht. Sie schaffte es nicht, die europäische Berufung Großbritanniens und das gemeinsame Schicksal, das Großbritannien und Europa verbindet, zu verteidigen. Man könnte darin sehr leicht den Beweis für die geringe Anhänglichkeit der Briten in allen politischen Lagern sehen.
Das schädliche und gefährliche Klima gipfelte in der Ermordung der Labour Abgeordneten Joe Cox, 41, am 16. Juni vor ihrem Büro in Birstall, Yorkshire. Sie hatte aktiv für den Verbleib Großbritanniens in der EU gekämpft. Ihr rechtsextremer Mörder hat sich zum politischen Hintergrund seiner Tat bekannt.
Nach der Ermordung von Joe Cox schien es, als würden sich die zwei Seiten am Riemen reißen. Die Kampagne war für drei Tage ausgesetzt. Man kann also nur hoffen, dass sie die letzten Tage, die ihnen zur Verfügung stehen, dazu verwenden, der Tragweite der Abstimmung und den Erwartungen gerecht zu werden. Denn Briten und Europäer verdienen etwas Besseres als das unwürdige Spektakel, das wie bisher miterlebt haben. Oder, wie es manche auf Twitter bemerkt haben: “Come on, Britain. We’re better than that.”