Der europäische Patient

Veröffentlicht am 9 Mai 2011 um 10:44

Dieses Bild ist Teil der Geschichte der Europäischen Union geworden: Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, mit zusammengepressten Zähnen, hochgezogenen Schultern nebeneinander hergehend, allem Anschein nach dem Endpunkt ihrer chaotischen Beziehungen sehr nah. Die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident waren unterschiedlicher Ansicht über die Art und Weise, wie man die Eurozone schützen solle, nachdem Griechenland quasi bankrott gegangen war. Zwei Tage später einigten sich die Finanzminister, einen Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro einzuführen. Dies war am 9. Mai 2010 und die Europäische Union überlebte die schlimmste Krise ihrer Geschichte.

Wo steht die EU ein Jahr später? Den Euro gibt es immer noch, aber Portugal ist nach Griechenland und Irland das dritte Land, das einen Rettungsschirm von vielen Milliarden erhält. Kein einziges Land ist bankrott gegangen, aber Sparpläne sind zum Gemeingut aller Länder der EU geworden. Zwei Regierungen, nämlich die irische und die portugiesische, mussten aufgrund der Krise gehen, und wenn es heute Wahlen gäbe, würde in Frankreich, Spanien und vielleicht sogar auch in Deutschland die Macht in andere Hände wandern. Und dies, obwohl Bundeskanzlerin Merkel in diesen Jahren der Unsicherheit zur dominanten Figur der Europäischen Union geworden ist. Ohne sie wird nichts entschieden.

Dieses ist übrigens einer der Hauptgründe der unterschiedlichen Bewertungen des Euro: Ein nordischer Block mit Deutschland, Österreich und den Niederlanden als Zentrum zeichnet eine neue, striktere EU. Symbol hierfür ist der Pakt für den Euro, der die Basis für eine bessere wirtschaftliche Führung schaffen soll.

Europa ist also gerettet, aber es geht ihm nicht gut. Die vielfältigen Krankheitssymptome treten deutlich zu Tage und übersteigen die wirtschaftlichen Probleme. Durch die Krise sind die europäischen Bürger anfällig geworden und wenden sich immer offener Protestparteien wie den Euroskeptikern und/oder Populisten zu. Die Politiker ziehen sich auf ihr politisches oder territoriales Gebiet zurück, entweder auf Grund oder als Folge dieses Phänomens. Derzeitige Kontroversen über die Handhabung des Schengen-Raums oder über den Status von Gastarbeitern zeugen hiervon, ebenso wie die Tatsache, dass die Mitgliedsstaaten nicht mehr Hand in Hand mit der Europäischen Kommission oder dem Europäischen Parlament zusammenarbeiten.

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Der Patient hat trotz all dem immer noch Trümpfe in der Hand: Innerhalb eines Jahres hat die EU ungeahnte Hilfsmittel bereitgestellt. Die Rettungsschirme und die verschiedenen Stabilitätsmechanismen sind die Frucht von schwierigen aber löblichen Kompromissen. Schwächen der gemeinsamen Währung werden nach und nach durch die Einführung gemeinsamer Vorgehensweisen ausgeglichen. Die aufgewandte Mühe zeugte von der Verbundenheit der 27 mit dem gebeutelten europäischen Projekt.

Die Verantwortung der europäischen Politiker in den Mitgliedsstaaten und in Brüssel wird dadurch nur verstärkt. Innerhalb Europas müssen sie den Bürgern ein politisches Konzept präsentieren, das eine soziale und gesellschaftliche Dimension enthält und dem einen Sinn geben, was immer mehr nach einem bloßen Wirtschafts-, Währungs- und Gesetzes-Projekt aussieht. Außerhalb Europas müssen sie auf nutzbringende Weise den „arabischen Frühling“ begleiten, die Globalisierung nicht mehr nur erdulden und ein wenig mehr die Herren über das Schicksal von 500 Millionen von Menschen sein. (sd)

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