Russlands Plan für Europa

Deutschland bestrafen, die EU entzweien und die Ukraine in die Zange nehmen

Die Flüchtlingskrise verschafft dem Kreml die Möglichkeit, seine Konfrontationspolitik gegenüber Europa umzusetzen und einen Vorteil aus Europas gegenwärtiger Schwäche und Zerrissenheit zu ziehen, sagt ein deutscher Leitartikler.

Veröffentlicht am 30 März 2016 um 16:16

Richard Herzinger, Leitartikler bei der deutschen Tageszeitung Die Welt behauptet Vladimir Putin unternehme vorsichtige Schritte, um Russlands Macht auf Europa auszuweiten. Der Sturz von Angela Merkel steht auf der Wunschliste des russischen Präsidenten ganz oben.

Die Bereitschaft des Kremls, sich in die Angelegenheiten von anderen einzumischen, hat seit der Ukrainekrise zugenommen. Herzinger behauptet, dass in Deutschland eine ähnliche „Infiltrierungsstrategie“ angewandt wird. Gegenwärtig gibt Russland vor, deutsche Bürger russischer Herkunft zu beschützen. Russische Medien propagierten großflächig eine fingierte Geschichte über ein russlanddeutsches Mädchen, das angeblich von einer Horde von Flüchtlingen vergewaltigt wurde. Sergei Lawrow, der russische Außenminister, setzte sich für das Opfer ein und kritisierte die deutsche Justiz für ihren Umgang mit dem Fall. Herzinger meint, diese Aktionen seien Teil einer breit angelegten Strategie Russlands, die Europäische Union zu destabilisieren. „Moskau testet ständig, wie weit es gehen kann, ohne im Westen auf nennenswerten Widerstand zu stoßen“. Merkels Rüge angesichts der Einmischungen blieb weitgehend folgenlos. Gleichfalls hat die Entscheidung eines britischen Gerichts, Putin mit der Ermordung Alexander Litvinenkos, eines russischen Dissidenten, der in London vergiftet wurde, in Verbindung zu bringen, kaum Reaktionen hervorgerufen.

Was also treibt Russlands strategische Einmischungen in Europa an? Herzinger behauptet, dass Putin die Mitgliedsstaaten der EU entzweien will und den Zerfall der EU zum Ziel hat —

Der Kreml-Herr träumt vielmehr von aus dem festen EU-Verbund gelösten, vereinzelten europäischen Nationen, die keine geopolitischen Grundsatzentscheidungen mehr treffen können, ohne das Plazet der Vormacht in Moskau eingeholt zu haben. Als Voraussetzung dafür soll die transatlantische Achse zerbrochen und Amerika vom Kontinent verdrängt werden. Diese Vorstellung Putins von einem russisch dominierten Europa stützt sich auf ein neoimperiales Ideologiegebräu, das großrussische Überlegenheitsvisionen aus der zaristischen Epoche mit wiederbelebtem Stolz auf das Erbe der sowjetischen Gewaltherrschaft amalgamiert.

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Herzinger hält Analysten für naiv, die damit rechnen, dass die Wirtschaftssanktionen Russlands Haltung abschwächen und sein Verhältnis mit Europa normalisieren würden. Die russische Gesellschaft, meint er, wurde darauf vorbereitet, sich als Spieler in einer besonderen Rolle der Weltgeschichte zu betrachten. In dieser Vorstellung ist Russland verpflichtet, seine westlichen Nachbarn von der „liberalen Dekadenz“ zu befreien, die von den Vereinigten Staaten ausgehe. Putin spielt eine zentrale Rolle als Retter und Erneuerer des „russischen Wesens“. Diese sorgfältig aufgebaute Geisteshaltung schützt ihn sehr gut vor wirtschaftlichen Erschütterungen.

Allerdings enden Putins geopolitische Abenteuer nicht in Europa. Syrien dient als perfektes Beispiel dafür, wie eine gut geplante russische Intervention den Westen in die Irre geführt und ausmanövriert hat. Während Diplomaten noch über ihren unterschiedlichen Haltungen brüten und die ISIS als ihren gemeinsamen Feind ausmachen, unterstützt Putin den Angriff Assads auf dessen eigenes Volk. Der Terrorismus dient als bequeme Entschuldigung für das Nichteinschreiten an Europas östlicher Grenze —

Die westliche Fiktion, der Kreml sei als Partner im Anti-Terror-Kampf unverzichtbar, dient wiederum als Rechtfertigung dafür, die Ukraine unter Druck zu setzen, dem russischen Aggressor mehr Zugeständnisse zu machen. Dass Russland die Bestimmungen des Minsker Abkommens offen missachtet und von seinem hybriden Krieg in der Ostukraine nicht ablässt, wird von den westlichen Regierungen dagegen nicht offensiv thematisiert. Stattdessen versuchen nun die USA in direkten Gesprächen, mit Moskau zu einem Modus Vivendi in der Ukraine zu kommen. Doch selbst wenn Putin angesichts der enormen Kosten seines militärischen Doppeleinsatzes in Syrien und der Ukraine zu taktischen Zugeständnissen bereit sein sollte – sich in der Illusion zu wiegen, er werde seinen Anspruch auf das Nachbarland aufgeben, wäre sträflich.

Übersetzung aus dem Englischen von Karen Gay-Breitenbach, DVÜD. Lektorat: Heike Kurtz, DVÜD

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