EuropaWahl 2014

“Ist Euroskepsis die neue Norm?”

Von Frankreich über Dänemark, Griechenland und Österreich bis hin nach Großbritannien sind die Ergebnisse der Europawahl vom Aufstieg der euroskeptischen Parteien geprägt. Den europäischen Medien zufolge deutet dieses Ergebnis auf eine klare Ablehnung der in Europa praktizierten Politik hin.

Veröffentlicht am 26 Mai 2014 um 16:27

Das neue Parlament ist stärker zersplittert und zählt mehr Abgeordnete kleinerer Parteien. Diese Fragmentierung spiegelt die tiefen Meinungsverschiedenheiten in Europa wider.

„Infolge der Europawahlen dürfte das Europäische Parlament lauter, widerspenstiger, verwirrender werden und nicht mehr so einfach in den Griff zu bekommen sein“, schreibt Quentin Peel in der Financial Times. Der britische Leitartikler meint: —

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Aufgrund des bemerkenswerten Erfolgs der populistischen euroskeptischen Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Griechenland hat das Europaparlament mit seinen 751 Abgeordneten keine klare Mehrheit. Zu erwarten ist nun ein wochenlanges politisches Gerangel um Allianzen mit sonderbaren Bettgenossen, während die größten Parteien um die Mehrheit kämpfen, um bestimmen zu dürfen, wer der nächste Präsident der Europäischen Kommission sein wird. Vor diesem Hintergrund könnte es zwischen dem Parlament und dem Europarat, in dem die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedstaaten zusammentreten, längere Zeit zu einer Funkstille kommen, zumal sie José Manuel Barrosos Nachfolger bestimmen müssen.

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Während die demokratische Partei des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi mit mehr als 40 Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis verzeichnet, ist in den übrigen Ländern „weder die von den Meinungsforschern angekündigte Protestwahl noch der vom [ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission, Romano] Prodi erwähnte gesunde Schock zu beobachten. Es geht weit darüber hinaus”, schreibt Aldo Cazzullo im Corriere della Sera:

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Die Europawahl 2014 wird uns als historische Niederlage eines politischen Systems im Gedächtnis bleiben. Als Untergang der traditionellen Parteien. Als Ablehnung des europäischen Establishments. Das gestrige Ergebnis zeigt, dass Europa nicht richtig auf die Krise reagiert hat. Die gesamte Welt konterte die Finanz- und Wirtschaftskrise mit Konjunkturpaketen und Investitionen. Nur Europa führte unter der Leitung Deutschlands Haushaltskürzungen und Sparprogramme ein, die alle Länder bis auf die Bundesrepublik verarmen ließen. […] Der Ausgang der Wahl bestätigt einen allgemeinen Trend, der weit über Europa hinaus reicht. Unser Zeitalter ist geprägt von einem Aufstand gegen die Eliten, gegen die Institutionen, gegen die traditionellen Formen der Volksvertretung. Und die EU gilt als Fundament und Garant dieser Eliten, gegen die sich die Bürger auflehnen.

„Ein Unentschieden für die Bürgerplattform“ titelt die Gazeta Wyborcza noch bevor die endgültigen Ergebnisse der Europawahl in Polen heute Nachmittag bekanntgegeben werden. Demnach steht bereits fest, dass die beiden größten Parteien des Landes - die regierende Bürgerplattform (PO) und die Opositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) - jeweils 19 Sitze im neuen Europaparlament gewonnen haben. Überraschend ist jedoch, dass der establishmentkritische und euroskeptische Kongress der neuen Rechten (KNP) mit sieben Prozent der Stimmen ebenfalls den Sprung ins Europaparlament geschafft hat. Der Zeitung GW zufolge dürfte der Erfolg der Populisten und Rechtsextremen bei dieser Wahl die Politik in Europa nachhaltig beeinflussen:

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Obwohl die radikale Euroskepsis wohl kaum den Betrieb der EU in Frage stellen kann, könnte sie sich in ein ansteckendes Virus verwandeln. Denn auch die übrigen Parteien, vor allem, wenn sie euroskeptische Wähler zurückgewinnen wollen, sind nicht gegen Populismus und Hysterie gefeit, insbesondere dann, wenn es um die verühmten „Einwanderungswellen“ und das „allmächtige Brüssel“, aber auch den Wunsch nach einem starken Nationalstaat geht.

Obwohl man mit dem Sieg der [französischen rechtsextremen Partei] Front National gerechnet” hatte, ist das Ergebnis - 25 Prozent der Stimmen - „ein Schock, der Frankreich und Europa dauerhaft erschüttern wird“, schreibt Libération. Die politisch links orientierte französische Tageszeitung meint:

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Die Schockwelle, die vom Triumph der Front National ausgeht, schwappt über die Grenzen. In Verbindung mit den ausgezeichneten Ergebnissen der euroskeptischen Parteien in Dänemark, Österreich und Großbritannien stellt der Aufstieg des FN eine ernst zu nehmende Gefahr für das europäische Gesamtkonzept dar. Das Virus, das seit Jahren in Frankreich sein Unwesen treibt, könnte sich in der Union ausbreiten, in welcher der Ärger über Sparprogramme und die Angst vor Einwanderern stetig zunimmt. Nur wenn die demokratischen Parteien wieder Zugang zu diesem Volk finden, das nicht mehr an die Demokratie glaubt, kann dieses Übel wirksam bekämpft werden.

Die Tageszeitung ist der Ansicht, dass die „Eurokrise“ am Aufstieg des Populismus in Europa Schuld habe. Die 2013 gegründete euroskeptische Alternative für Deutschland (AfD) erobert sieben Sitze im Europaparlament und stellt damit die meisten etablierten Parteien in den Schatten, die Wähler verlieren. Unterdessen gelingt es auch der rechtsextremen NPD, einen Abgeordnetensitz im Europaparlament zu ergattern. Der TAZ zufolge zeigt der Erfolg der AfD, dass sich das liberale Kernmilieu tiefgreifend verändert:

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In Deutschland gibt es „eine Szene von Besserverdienenden, denen die Multikultirepublik auf die Nerven geht und die gar keine Lust haben, für faule Griechen zu zahlen. [...] Darauf zu vertrauen, dass die AfD sich schon selbst ruinieren wird, ist naiv. Man kann den AfD-Erfolg als eine Art europäischer Normalisierung lesen. Die Ablösung liberaler durch rechtspopulistische Parteien hat in Österreich und den Niederlanden längst stattgefunden. Also Euroskepsis als Annäherung an die EU-Norm?”

Ein großer Sprung für die dänische Volkspartei”, titelt Berlingske und berichtet, dass die rechtspopulistische Partei bei der Europawahl 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte und damit die erfolgreichste Partei des Landes ist. Dennoch zweifelt die dänische Tageszeitung daran, dass die euroskeptischen Parteien im Europäischen Parlament wirklich erfolgreich Einfluss üben können:

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Trotz der Wahlerfolge sind die Erfolge der euroskeptischen Parteien in erster Linie wahltaktische Resultate. Die Frage aber ist, ob die proeuropäische Mehrheit diese neue euroskeptische Welle in Europa ignorieren werden kann. [Die französische Politikerin] Marine Le Pen [der Partei Front National] hat angekündigt, die EU im Inneren zerstören zu wollen. Trotz des Siegeszuges ihrer Partei ist aber längst nicht sicher, dass es Le Pen auch gelingen wird, genügend Länder für ihre Ideen zu gewinnen, um innerhalb des neuen Parlaments eine neue Gruppe zu bilden.

Im Anschluss an die Europawahl titelt Eleftherotypia: „Zum ersten Mal Syriza!“. Alexis Tsipras linksradikale Koalition hat es auf 27,6 Prozent der Stimmen geschafft, während sich nur 22,8 Prozent der Wähler für die Neue Demokratie des Ministerpräsidenten Antonis Samaras aussprachen. In den Augen der Tageszeitung handelt es sich für die Regierungskoalition (ND-Sozialisten) ganz eindeutig um einen heftige Niederlage, zumal sie gegenüber 2012 satte zehn Prozent einbüßt. Gleichwohl heißt das nicht, dass sie [„diese Botschaft auch versteht“]. Zudem betont die Zeitung auch das erstaunliche Ergebnis der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte, die es auf 9,39 Prozent geschafft hat:

Der dritte Platz der Goldenen Morgenröte ist eine Schande. In ganz Europa ist diese Wahl vom Aufstieg der Euroskeptiker und Rechtsradikalen gezeichnet.

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