Visegrád Vier: In Zwietracht überleben

In diesem Monat haben wir in Zusammenarbeit mit Display Europe die mitteleuropäische Presse ausgewertet. Im Zentrum steht die wachsende Kluft zwischen den Visegrad-Staaten (V4), Ungarns Einladung an die chinesische Polizei und Österreichs ängstliches Festhalten an der Neutralität.

Veröffentlicht am 28 März 2024 um 13:18

Zur Gruppe der Visegrad-Staaten zählen die Tschechische Republik, die Slowakei, Polen und Ungarn. Die Gruppe wurde nach dem Niedergang des Kommunismus gegründet, um die Zusammenarbeit dieser mitteleuropäischen Länder zu fördern und sie in das europäisch-transatlantische Netzwerk einzubinden. Derzeit scheint das Quartett in zwei Lager geteilt: V4 = V2+ V2 – mit unterschiedlichen Strategien gegenüber Russlands Angriffskrieg der Ukraine. Die Tschechen und Polen setzen sich für Militärhilfe ein, während Ungarn und die Slowakei der Meinung sind, dass mehr Waffen den Konflikt nicht lösen werden. Die Spaltung innerhalb der Gruppe hat ein solches Ausmaß erreicht, dass von einer faktischen Auflösung die Rede ist.

Im Februar 2024 stand das Treffen der Visegrad-Gruppe in Prag unter dem Eindruck der spürbaren Spannungen. Anschließend bildete sich in der mitteleuropäischen Medienlandschaft jedoch über regionale und politische Grenzen hinweg ein Konsens, dass das Bündnis Bestand habe und die Zusammenarbeit fortgesetzt werden müsse. In der Pravda widerspricht der slowakische politische Vordenker Tomas Strazay den Gerüchten um den Untergang der V4 und versichert, dass das Konklave der Ministerpräsidenten entgegen mancher Prognosen nicht das Ende der 33-jährigen Interessengemeinschaft sei. Schließlich hätten die V4 „nie eine monolithische regionale Einheit angestrebt, die mit einer Stimme spricht.

Gerade das Fehlen starrer Institutionen gibt der Gruppe den Spielraum, selbst in Fragen von strategischer Bedeutung unterschiedliche Standpunkte zu vertreten.“ Das Fehlen einheitlicher Regeln ermöglicht pragmatische Koalitionen bei Themen, die für beide Seiten vorteilhaft sind – zum Beispiel bei der Unterstützung der Landwirtschaft, der Energiepolitik oder der Migration. Ivan Hoffman schließt sich dieser Meinung an und charakterisiert in einer weiteren Kolumne in der Pravda die V4 als einen Zusammenschluss mitteleuropäischer Staaten, „die weniger durch wirtschaftliche Beziehungen oder gemeinsame politische Ambitionen verbunden sind, sondern durch die kollektive Erinnerung an die Existenz hinter dem Eisernen Vorhang – eine Bruderschaft von Ländern am östlichen Rand Westeuropas mit einem ähnlichen geopolitischen Schicksal.

„In Erwartung einer Beerdigung in Prag kam es zur Wiederbelebung der V4“ verkündet eine Schlagzeile in Ungarns konservativer Tageszeitung, Magyar Hírlap zu einem Interview mit Ágnes Vass, Forschungsdirektorin des Ungarischen Instituts für Auswärtige Angelegenheiten.  Vass vertritt die Ansicht, dass die Anpassungsfähigkeit des Bündnisses zugleich sein größter Trupmf und seine Achillesferse ist – und dass sie trotz der Abgründe, die sich angesichts der Ukraine-Krise aufgetan haben, immer noch pragmatische Lösungen in Bereichen wie Energie und Migration zulässt.


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Martin Ehl von Hospodářské noviny liefert aus Prag eine ähnliche Diagnose: „Anders als manche meinen, liegt die Visegrad-Gruppe nicht im Sterben, sondern hat sich gerade auf den vielleicht pragmatischsten Ansatz ihrer drei Jahrzehnte währenden Existenz eingestellt.“ Im Anschluss an das Gipfeltreffen wiesen die Ministerpräsidenten alle Gerüchte zurück und betonten das Potenzial der Visegrad-Gruppe, sich innerhalb der Europäischen Union zu einer starken Interessenvertretung zu entwickeln.

Die vier Länder finden seltene Einigkeit in einem Dilemma, das in Zukunft in ganz Mitteleuropa für Zwietracht zu sorgen droht: der Zustrom preisgünstiger ukrainischer Produkte. Auch bei den Protesten in der Landwirtschaft schwingt dieses Thema hier und heute mit und wirft einen langen Schatten auf den Finanzrahmen der Europäischen Union, in dem der Agrarsektor mit einem großzügigen Drittel des Gesamthaushalts unterstützt wird.

Auf den Titelseiten der polnischen Tageszeitung, Rzeczpospolita unterstützte der Politikwissenschaftler Tomasz Kubin in einem Artikel mit der Überschrift „Lasst uns die Visegrad-Gruppe nicht töten — sie könnte sich noch als sehr nützlich erweisen“ eine ähnlich utilitaristische Haltung. Er plädiert dafür, die Aktivitäten der V4 „einzufrieren“ statt sie vollständig zu stoppen. Kubin pocht darauf, dass die Allianz bei den Debatten über Reformen der EU-Verträge oder bei diplomatischen Verhandlungen mit anderen Ländern (die oft im erweiterten „V4+“-Format stattfinden) eine wichtige Rolle spielen könnte. Er betont, es sei praktischer, ein bestehendes Format wiederzubeleben als mühsam und von Grund auf eine neue Koalition zu schmieden.

Budapest öffnet einer Präsenz der chinesischen Polizei die Türen

Die ungarische Regierung hat einen Hang zum Nationalismus und hat 2023 Gesetze verabschiedet, die sie vor ausländischer politischer Einflussnahme schützen sollen (und die mutmaßlich gegen EU-Normen verstoßen). Nun ist sie bereit, einen Teil ihrer Souveränität an Beijing abzutreten und gestattet chinesischen Polizeikräften, offiziell auf ungarischem Boden tätig zu werden. Világgazdaság, eine Budapester Wirtschaftstageszeitung, sieht keinen Grund zur Beunruhigung und bezeichnet die Polizeipartnerschaft als einen Segen für höhere Sicherheit an touristischen Hotspots während der Hochsaison und bei Massenveranstaltungen.

Die Wochenzeitung Heti Világgazdaság ist damit jedoch nicht ganz einverstanden und befürchtet, dass diese Maßnahme über die bloße Sicherung des Tourismus hinausgeht. Sie äußert die Sorge, dass diese Polizeikräfte auch mit der Überwachung der lokalen chinesischen Gemeinschaft und der asiatischen Arbeitskräfte in den zahlreichen chinesischen Batteriefabriken, die in Ungarn entstehen, betraut sind. Seit Jahren berichtet die Zeitrschrift über verborgene sogenannte „Dienststellen“ in mindestens drei ungarischen Städten. Aktivisten sind der Meinung, diese Einrichtungen seien tatsächlich Außenposten der chinesischen Polizei, die Druck auf Auslandschinesen ausüben.


Weitere Themen

Die EU und Österreichs Neutralität

Ralph Janik | Die Presse | 13. März | DE

Überschattet von Russlands Übergriffen in der Ukraine haben Finnland und Schweden ihre legendäre Neutralität aufgegeben und sind der NATO beigetreten – ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr Moskaus Kriegstreiberei die Nerven der skandinavischen Länder strapaziert. Österreich hingegen ist von NATO-Staaten umgeben und erscheint als eine Insel der Abgeschiedenheit. Der Schachzug des Kremls hat die Alpenrepublik politisch kaum aus der Fassung gebracht und auch nicht zu einer Neubewertung ihrer neutralen Haltung in der aktuellen angespannten geopolitischen Lage geführt.

Ralph Janik, forscht zu Völkerrecht und internationalen Beziehungen. Für Die Presse stellt er fest dass Österreichs EU-Mitgliedschaft das Land in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingebunden hat, und dass dies im Widerspruch zur Behauptung der österreichischen Verteidigungsministerin Klaudia Tanner stehe, man werde nicht eingreifen, wenn ein anderer EU-Mitgliedstaat angegriffen werde. Die Neutralität wird zwar nicht aufgehoben, aber sie hat sich gewandelt. Österreich behält sich vor, bestimmte EU-Maßnahmen wie die Finanzierung von Waffen für die Ukraine nicht mitzutragen. Allerdings erweitert die EU-Mitgliedschaft den diplomatischen Spielraum Wiens. Österreichs Art der Neutralität hat sich zu einer nuancierten hybriden Form gewandelt: Sie ist flexibel, aber an die gemeinsamen Maßnahmen der EU gebunden. Wenn das Land wollte, könnte es militärische Unterstützung gewähren. Als Geste der Solidarität, nicht der Neutralität.

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ECF, Display Europe, European Union

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