Premierminister David Cameron. „England, wach auf!” Auf dem Schild: „Bulgaren und Rumänen ohne Ende”

David Cameron und die „nützlichen Barbaren” der EU

Ab 1. Januar 2014 haben auch Bulgaren und Rumänen Zugang zum gesamten EU-Arbeitsmarkt. London, Paris und Berlin wollen dies jedoch beschränken, auch wenn dadurch europäische Werte verletzt werden, beklagt ein Leitartikler aus Sofia.

Veröffentlicht am 4 Dezember 2013 um 13:45
Premierminister David Cameron. „England, wach auf!” Auf dem Schild: „Bulgaren und Rumänen ohne Ende”

„Die Abenddämmerung ist hereingebrochen, aber von den Barbaren keine Spur. Von der Grenze kehren Boten zurück: ‚Es gibt keine Barbaren mehr!’, berichten sie. Was sollen wir nur ohne sie machen? Zum Lösen unserer Probleme waren sie uns von so großem Nutzen...” So endet das Gedicht „Das Warten auf die Barbaren” des griechischen, aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden Lyrikers Konstantinos Kavafis (1863-1933).

In letzter Zeit haben die wohlhabenden Länder Westeuropas die jahrtausendealte Bedrohung der Barbaren in Gestalt der im Osten des Kontinents angesiedelten Stiefkinder wiederentdeckt. Vergangene Woche zauberte der britische Regierungschef eine Reihe von Maßnahmen aus dem Hut hervor, durch die rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen nur ein beschränkter Zugang zum britischen Arbeitsmarkt und den Sozialleistungen gewährt werden soll. Dabei wären ab dem 1. Januar 2014 auch die letzten Beschränkungen auf diesem Gebiet hinfällig gewesen.

Ungewohnt drastische Reaktionen

Während diese von London verhängte Quarantäne in Brüssel nur einen Hauch von Protest auslöste, führte sie auf der Seite der bulgarischen Diplomatie zu ungewohnt drastischeren Reaktionen. [Hinzukommt], dass sich auch Deutschland und Frankreich in den darauffolgenden Tagen Großbritannien anschlossen und ihrerseits zusätzliche Beschränkungen für Bulgaren und Rumänen erließen. Die Große Koalition Angela Merkels, die sowohl das linke als auch das rechte Lager vereint, verpflichtete sich dazu, den „ungerechtfertigten Ansprüchen auf einen Zugang zu sozialen Leistungen” ein Ende zu bereiten. Und selbst Frankreichs sozialistische Regierung von François Hollande versicherte, ganz ähnliche Maßnahmen getroffen zu haben.

[[Wenn die drei mächtigsten Länder der Europäischen Union gleichzeitig entscheiden, Schranken zu errichten, bedeutet das, dass irgendwas im Busch ist]]. Im ersten Halbjahr 2012 hat Deutschland nach eigenen Aussagen rund 550.000 Einwanderer aufgenommen, d. h. elf Prozent mehr als gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Zwei Drittel der Immigranten stammen aus der EU, die Mehrheit von ihnen aus Osteuropa. Allerdings verzeichnete Berlin auch einen Zuwachs an Immigranten aus Südeuropa: + 39 Prozent Spanier, + 41 Prozent Italiener und + 26 Prozent Portugiesen.

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Und obwohl diese Pendler keine Bedrohung für ein Land mit 82 Millionen Einwohnern darstellen, geben sie dennoch Aufschluss über eine beunruhigende Tendenz. Einerseits hat die Schuldenkrise, die vor allem den Süden des Kontinents in Mitleidenschaft gezogen hat, einen Zuwandererstrom aus den besagten Ländern ausgelöst, der zu demjenigen Osteuropas hinzuaddiert werden muss. Andererseits spielen nationalistische, isolationistische und anti-europäische Parteien auf den politischen Bühnen Nord- und Westeuropas eine immer wichtigere Rolle. So hat die United Kingdom Independence Party (UKIP) von Nigel Farage in Großbritannien immer mehr Einfluss auf die öffentlichen Debatten gewonnen. Und Abgeordnete hat sie nur deshalb keine, weil das [britische] Mehrheitswahlprinzip ein so eigentümliches Wahlverfahren ist.

Heute sieht Europa anders aus

Aus Umfragen geht hervor, dass die Einstellung der Briten als zunehmend radikal zu bezeichnen ist, und sich viele von ihnen mit einer noch viel extremistischeren Partei – der British National Party (BNP) – identifizieren können. In Frankreich ist es die Dynastie-Partei Jean-Marie Le Pens – die Front National (FN) –, die sich auf Erfolgskurs befindet und bestimmte Minister – wie beispielsweise Manuel Valls – hin und wieder dazu zwingt, in ganz besonders aggressiven Kampagnen gegen die Roma selbst den Ton anzugeben. Deutschland hat extremistische Anwandlungen unterdessen nach wie vor unter Kontrolle, weil es über eine diesbezüglich ganz besonders strenge Gesetzgebung verfügt.

Lange Rede, kurzer Sinn: Im Jahr 2013 sieht das Europa, dem Sofia und Bukarest 2007 mit Pauken und Trompeten beigetreten sind, ganz entscheidend anders aus. Niemand verliert mehr ein Wort über die endlich wiederhergestellte Einheit des Alten Kontinents und die zivilisatorischen Tugenden der Demokratie und der Marktwirtschaft. Ganz im Gegenteil: Für Boulevardzeitungen und Revolverblätter sind die armen Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien (und allen voran die Roma) inzwischen ein gefundenes Fressen. Ein bisschen so wie die syrischen Flüchtlinge derzeit in Bulgarien...

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