Nachrichten Die Presse in Europa (4/5)
Wenn’s keiner mehr liest: Luxus-Klamotten aus Zeitungspapier

Der Tod des Literaturkritikers

Klatsch schlägt Kultur: In Hoffnung auf mehr Leser will schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet ihre Literaturseiten abspecken und dafür die Lifestyle-Rubrik erweitern. Welch eine Verarmung der Presse!, klagt einer der Kritiker, die dabei auf der Strecke blieben.

Veröffentlicht am 27 Dezember 2012 um 09:00
Payam Emrani  | Wenn’s keiner mehr liest: Luxus-Klamotten aus Zeitungspapier

Am 6. November 2012, Jahrestag der Schlacht bei Lützen [die 1632, während des Dreißigjährigen Krieges, mit dem Pyrrhussieg des protestantischen, schwedischen Heers über die katholischen Habsburger endete], erhielten wir, das heißt ich selbst und mehrere Feuilleton-Mitarbeiter des Svenska Dagbladet, darunter einige der bekanntesten und erfahrensten Literaturkritiker, ein Schreiben vom neuen Ressortleiter, Martin Jönsson, und der neuen Verantwortlichen der Literatur-Rubrik, Lina Kalmteg.

In diesem Schreiben wurden wir darüber informiert, dass die Zeitung in Zukunft auf unsere Literaturkritiken verzichten könne, da wir am Anfang eines neuen Zeitalters stünden und es viel zu viele freiberufliche Kulturjournalisten gebe. Die Feuilleton-Leitung wünschte „in Zukunft mit einer kleineren Gruppe zusammenzuarbeiten, um die literarische Aktualität teilweise auf andere Art und Weise zu behandeln.“

In Wirklichkeit hatten die Verantwortlichen der Zeitung beschlossen, aus wirtschaftlichen Gründen ihr Budget für Literaturkritiker zu senken und ihre einschlägigen Seiten verstärkt auf „Lifestyle“, Medien und andere weniger anspruchsvolle Inhalte auszurichten.

„Klassenkampf“ im Kulturjournalismus

Die Entlassung der Kulturmitarbeiter des Svenska Dagbladet ist kein Einzelfall, sondern eine weit verbreitete Folge der internationalen Pressekrise. Die Direktoren von Zeitungen fühlen sich nämlich angesichts der Konkurrenz durch die Online-Presse und andere elektronisch Medien verpflichtet, ihre intellektuellen Ansprüche herunterzuschrauben, um mehr Leser zu gewinnen, obwohl dies keineswegs gerechtfertigt ist.

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Im Ergebnis werden Feuilletonredakteure entlassen oder aufs Abstellgleis geschoben und durch Journalisten ersetzt, die die kulturellen Inhalte in Form von Lifestyle-Reportagen und vorgekauten Artikeln anderer Art so aufbereiten sollen, dass sie problemlos in Bus und U-Bahn zu lesen sind. Das Problem, mit dem sich das Svenska Dagbladet heute konfrontiert sieht, ist bei Dagens Nyheter, Göteborgs-Posten und anderen Veröffentlichungen weltweit schon vor einiger Zeit aufgetreten.

Gleichzeitig kann dies als Endphase eines langen „Klassenkampfes“ zwischen zwei Kategorien von Zeitungsmitarbeitern betrachtet werden. Eine dieser „Klassen“ besteht aus diplomierten Journalisten, die sich ihre Sporen in den Redaktionen der Fernsehnachrichten und Reportage-Magazine, also in den Medien, verdient haben – aus historischer Sicht eine „untergeordnete Klasse“, die jetzt über die Kulturseiten herrscht. Die andere Kategorie setzt sich zusammen aus Kulturmitarbeitern mit Universitätsausbildung, oder die aus dem Parnass der Literatur stammen. Dies ist aus historischer Sicht eine „übergeordnete Klasse“, die jedoch mehr und mehr aus den Tageszeitungen verdrängt wird.

Flucht der gebildeten Abonnenten

Der eigentliche Verfall der Kulturseiten begann ungefähr im Jahr 2000 und griff von da an nach demselben Prinzip allmählich auf alle großen Tageszeitungen über, als die Leser ihre Abonnements kündigten, um die Veröffentlichungen in elektronischer Form kostenlos im Internet zu lesen. Die Kulturseiten des Svenska Dagbladet sind hiervon trotz der prekären Finanzlage der Tageszeitung lange verschont geblieben. Dies war insbesondere den treuen Mitarbeitern und den ebenso treuen Lesern zu verdanken, die weitgehend aus dem Bildungsbürgertum stammten.

Der neue Eigentümer der Zeitung, [die norwegische Gruppe] Schibsted, forderte jedoch schon bald drastische Kürzungen und eine Kursänderung. Mats Svegfors und Peter Luthersson, zwei Intellektuelle, die bei der Tageszeitung Verantwortungspositionen bekleideten, sind gegangen und wurden durch stärker marketingorientierte Mitarbeiter aus dem Journalistenmilieu ersetzt.

Wie werden sich diese Veränderungen auf die Abonnentenzahlen auswirken? Junge, motivierte Freelance-Journalisten sind nicht teuer. Kurzfristig können durch solche vielleicht Einsparungen erzielt und eventuell sogar ein paar neue Leser der jungen Generation hinzugewonnen werden, von der man hofft, dass ihr die neue editorische Aufmachung der Zeitung mit Schwerpunkt „Lifestyle“ gefällt, sprich mit Fokus auf Mode, Dekoration, Reisen, Freizeit und literarischen Bestsellern.

Herrschaft der Journalisten ein Pyrrhussieg

Gleichzeitig ist eine solche Entscheidung jedoch mit Risiken verbunden, denn das gebildete Bürgertum, das bisher treue Leser stellte, beginnt, seine Abonnements zu kündigen. Daneben ist es auch sehr wahrscheinlich, dass die meisten jungen Anhänger der „Lifestyle“-Rubriken in Zukunft die gedruckte Presse ein für alle Mal links liegen lassen, um die gewünschten Informationen in der Online-Presse und in anderen elektronischen Medien zu suchen. Dieser Prozess ist bereits weit vorangeschritten. Die anspruchsvollen Leser mit Universitätshintergrund werden sich ihrerseits intellektuellen Veröffentlichungen zuwenden.

Die bekannten Kulturjournalisten dürften sich aus der Affäre ziehen, auch wenn Tageszeitungen wie Dagens Nyheter oder Svenska Dagbladet sie nicht mehr angemessen bezahlen können. Manche von ihnen haben bereits ihre eigenen Blogs oder Websites eingerichtet, mit denen sie ihre Leser erreichen können. Langfristig werden sie wohl auch mit Tätigkeiten im Universitätsmilieu, für Kulturstiftungen und Verlagshäuser mit intellektueller Ausrichtung gute Einnahmen erzielen können.

Die Vorherrschaft der Tageszeitungs-Journalisten in den Kulturseiten wird so sicherlich ebenfalls mit einem Pyrrhussieg enden. Diese Journalisten werden zweifellos, ebenso wir die jungen Freelance-Journalisten, die Hauptopfer der Arbeitslosigkeit sein – und nicht die erfahrenen Literaturkritiker und anderen Mitarbeiter, die im kulturellen Milieu als „sichere Werte“ gelten. (ae)

Erschienen in der Presseserie:
1. El País: Am Größenwahn gescheitert
2. Und ewig lockt die Macht
3. Die Zeitung stirbt nicht im Silicon Valley
5 In der Brüsseler Seifenblase

Aus Deutschland

Debatten sind die Identität der Zeitungen

Die Kultur- und Debattenressorts der Tageszeitungen sind der Pressekrise zum Opfer gefallen. Doch in Dagens Nyheter erklärt Thomas Steinfeld, der leitende Redakteur des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung:

Es gibt Debatten, die nur im Rahmen der Zeitung stattfinden können. Manche dieser Debatten sind für die Entwicklung der Gesellschaft notwendig. In Deutschland hatten wir in den letzten beiden Jahren drei davon, nämlich über Beschneidung, Blasphemie und Plagiat wissenschaftlicher Schriften (letztere endete mit dem Rücktritt von Verteidigungsminister Guttenberg). [...] Alle diese Debatten standen in Zusammenhang mit dem Feuilleton und in jeder von ihnen nahm die Zeitung im Vergleich zu den visuellen Medien eine entscheidende strategische Rolle ein. [...] Um das Interesse für Unterhaltung zu befriedigen, wurden die Schlüsselthemen der Kulturseiten, angesichts der Kritik, durch Porträts und Interviews ersetzt.

           

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