Deutschland, die falsche „große Schweiz“

Veröffentlicht am 28 März 2011 um 16:27

Wegen seiner Weigerung, das Eingreifen der Ländergemeinschaft während des UN-Sicherheitsrates abzusegnen, erntet Deutschland viel herbe Kritik in der ausländischen Presse. Angela Merkel, die sich anmaßt, Europa ihre eigene Auffassung eines ausgewogenen Staatshaushalts aufzuzwingen, wolle wiederum keine Verantwortung übernehmen, wenn irgendeine Gefahr von außen droht. Das geht so weit, dass Deutschland von Timothy Garton Ash (The Guardian) und Andrea Tarquini (La Repubblica) herablassend als eine Art „große Schweiz“ abgestempelt wird.

Im Grunde werfen diese Beobachter Berlin ein passives Verhalten gegenüber den libyschen Aufständen vor – was sie mit einer Form von Neutralität gleichsetzen. Doch die Gleichung „Neutralität = Passivität“ geht nicht immer systematisch auf und sie verhüllt komplexe Mechanismen mit einer groben Vereinfachung. Der Fall der „kleinen Schweiz“ beweist dies, leistet sie doch „aktive“ Vermittlungsarbeit zwischen Russen und Georgiern, Armeniern und Türken, ebenso wie sie amerikanische Interessen im Iran oder kubanische Interessen in Washington vertritt. In diesen heiklen Situationen genügt es oft nicht, den Anstandswauwau zu spielen.

Nicht alle Akteure der politischen Szene in der Schweiz sind über diese „Hilfeleistungen“ so glücklich. Bundesrätin Micheline Calmy-Rey steht aufgrund ihrer „zielbewussten“ Politik regelmäßig im Kreuzfeuer der Kritik [etwa als sie vor dem iranischen Präsident Mahmud Amadinedschad in Teheran verschleiert erschien]. Ist bewaffnete Neutralität gleichbedeutend mit einer Weigerung, sich in die globalen Angelegenheiten einmischen zu wollen, und ist Notwehr dabei die einzige Grenze? Oder will sie Gefahren vorbeugen, indem man seine Landesgrenzen übertritt, um hier eine Vermittlung und dort eine Friedensmission auszurichten [die Schweiz hat sich insbesondere bei der KFOR im Kosovo engagiert]?

Die Hilfeleistungen sind eine offene Marktnische, und so konkurrieren die Schweiz und Norwegen miteinander, wenn es darum geht, Friedensinitiativen zu starten oder internationale Gipfeltreffen abzuhalten. Deutschland hingegen verspürt geostrategische Positionierungsprobleme. Es trägt keine sarkozystischen Ambitionen auf ein verteidigungsstarkes Europas gegenüber der Nato zur Schau und will auch nicht dessen Führung übernehmen. Gleichzeitig war es nicht in der Lage, in der Nachkriegszeit das diskrete diplomatische Beschwichtigungs-Know-how seiner kleinen Nachbarn im Süden oder im Norden zu entwickeln. Weder Interventionist noch Vermittler, ständig den prüfenden Blicken seiner anspruchsvollen 26 europäischen Partner ausgesetzt... Berlin kann keinen Anspruch auf den Titel einer „großen Schweiz“ erheben. Und will das bestimmt auch gar nicht.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!
Kategorien
Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!