Die Populisten sind nicht das Problem

Alle hier und da aufkeimenden Rebellionsbewegungen als populistisch und rückschrittlich zu bezeichnen, verschleiert nur die Wurzeln des Übels: Nicht der Zorn der Bürger bedroht die EU von heute, sondern der Widerwille der Regierungen, ihre nationale Souveränität abzugeben.

Veröffentlicht am 8 November 2013 um 11:35

Ich wünsche mir die Entstehung eines föderalen Europas und die Erhaltung der gemeinsamen Währung. Andernfalls hätten wir statt der EU lauter kleine Staaten ohne Kraft, wenn auch nicht ohne Saft – sie wären keine Freunde, sondern erst recht Vasallen der amerikanischen Macht. Wir wären wieder am Ausgangspunkt angelangt: besiegt aufgrund unserer Nationalismen, wie nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts.

Warum steigt in Europa die Zahl der Menschen, die so unzufrieden, so angewidert sind, dass sie die Reihen der extremen Rechten und der euroskeptischen Parteien verstärken? Bezeichnet man sie als populistisch oder rückschrittlich, bleibt man an der Schwelle des „Warum“ stehen, ohne sich zu fragen, was diesem Aufschrei zugrunde liegt. Darauf antworten zu wollen, wäre zwecklos, wenn die Proteste und die Vorschläge, die so unterschiedlich voneinander sind, doch nur wie ein dicker Klumpen entsorgt werden, der irgendeinen Fortschritt blockiert.

Chronisches Gipft

Stempelt man das Problem durch Empörung und Ablehnung ab, ignoriert man, dass das Europa von heute chronisches Gift verspritzt. Es reicht nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, damit sie existieren, auf die performative Art und Weise der aktuellen Regierungen. Das läuft darauf hinaus, zu verschleiern, was doch offensichtlich ist: [[Nationalismus und Konservatismus sind das Übel, das die regierenden Instanzen selbst sowie die Eliten der EU-Staaten heimsucht]]. Auch hier muss man sich trauen, es nicht bei Worten zu belassen: Das Wort „Föderation“ ist nicht mehr tabu – außer in Frankreich. Es wird heute von vielen genannt. Doch darauf folgen noch lange keine konkreten Handlungen: keine Zusammenlegung der Staatsschulden, kein Wachstum, das durch Eurobonds und durch weitaus gehaltreichere europäische Ressourcen als heute aufgebaut würde. Und vor allem kein europäisches Parlament mit neuen Befugnissen und einer gemeinsamen Verfassung, die die Ansichten der Bürger ausdrückt. Kurz, ein Europa, das für sie eine Zuflucht in diesen beängstigenden Zeiten wäre, und nicht das Schneckenhaus, das eine endogame Oligarchie von Machthabern schützt, die sich gegenseitig decken.

Das Europa von heute wird nicht vom Zorn seiner eigenen Bürger (von rechts wie von links) bedroht. Es wird von Regierungen bedroht, denen es widerstrebt, nationale Souveränität abzugeben – wobei diese nicht nur geheuchelt, sondern auch unverdient ist, denn in der Demokratie sind die Völker die Herrscher. Wenn die Krise von 2007-2008 Europa über alle Maßen quält, dann wegen dieser Verzerrungen. Eine Sparpolitik, die Armut und Ungleichheiten hervorhebt, ein Stabilitätspakt, über den kein Parlament debattieren konnte: Das ist das Europa, das sich vom Populismus säubern will. Es ist das Elend in Griechenland. Es ist die Korruption der Regierungen, die von Ungleichheiten und falscher Stabilität geschürt wird.

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Syriza - das beste Beispiel

Der Fall der radikalen Linken in Griechenland ist exemplarisch. Syriza, eine Koalition von Bürgerinitiativen und Linksverbänden, wurde während der beiden Wahlen von Mai und Juni 2012 als anti-europäisch und populistisch qualifiziert. Die europäischen Kanzleien hatten sich damals mobilisiert und Syriza als das niederzuschlagende Ungeheuer beschrieben. Berlin hatte gedroht, den Geldhahn mit den Hilfszahlungen abzudrehen. Doch weder Syriza noch ihr Anführer Alexis Tsipras sind gegen Europa. [[Sie verlangen ein anderes Europa – und das versetzt das Establishment in Angst und Schrecken]].

Als er sein Programm am 20. September vor dem Kreisky-Forum in Wien vorstellte, überraschte Alexis Tsipras jene, die ihn in den Schmutz gezerrt hatten. Er sagte, die Architektur des Euro und die Rettungspläne hätten die Union zerstört anstatt ihre Wunden zu verbinden. Er erinnerte an die Krise von 1929 und daran, wie sie gemäß neoliberalen Dogmen angegangen wurde. Genau wie heute „leugneten die Regierungen, dass die Architektur ihrer Projekte unsinnig war. Sie bestanden auf der Sparpolitik und predigten nur die Ankurbelung der Exporte.“ Das Ergebnis war Armut „und das Aufkommen des Faschismus in Südeuropa und des Nationalsozialismus in Mittel- und Nordeuropa.“ Aus diesem Grund müsste die Union von A bis Z neu überarbeitet werden. Syriza nimmt die Ideen der deutschen Gewerkschaften auf und schlägt einen Marshall-Plan für Europa vor, eine echte Bankenunion, eine zentralisierte Verwaltung der Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank und ein massives EU-Programm mit öffentlichen Investitionen.

Die Schuld wird aufs Volk übertragen

Doch Alexis Tsipras sagt noch etwas anderes: Er weist auf den Zusammenhang zwischen der europäischen Krise und den korrupten Demokratien in Athen und vielen anderen südlichen Ländern hin. „Unsere Kleptokratie hat feste Bündnisse mit den europäischen Eliten geschlossen“, erklärt er. Diese Verbindungen werden durch die Lügen über die Fehler der Griechen oder der Italiener, über die zu hohen Löhne und die überaus großzügigen Staaten gestärkt. Diese Lügen „dienen dazu, die Schuld an den nationalen Schwächen von den Schultern der Kleptokraten zu nehmen und auf das schwer arbeitende Volk zu übertragen“.

[[Den Bündnissen steht keine Opposition mehr entgegen, seitdem die klassische Linke in den 90er Jahren die neoliberalen Dogmen angenommen hat]]. Ein großer Teil der Bevölkerung stand somit ohne Repräsentation da. Verschwunden, in den Hintergrund tretend, bestraft durch eine Sparpolitik, die nach militärischer Übung aussieht. Eben dieser Teil (eine Mehrheit, wenn man auch die Nichtwähler dazu zählt) protestiert gegen Europa. Manchmal träumt er von einer irrealen Rückkehr zu nationalen Währungen und Hoheitsrechten; manchmal verlangt er ein anderes Europa, das nicht die Schreie der Armen überhört. Von der Zwischenkriegszeit bis zum Ende der 1970er Jahre vermochte es sie ja auch zu hören. Das also sagt Tsipras. Und in Italien sagt Beppe Grillo ungefähr dasselbe, wenn auch auf etwas chaotischere Art.

Wenn sich nichts bewegt, dann wird Europa keinen Schutz mehr bieten, sondern ein Ort sein, an welchem die Bürger Wind und Wetter ausgesetzt sind. Es wird von blutsverwandten Eliten verwaltet und erinnert immer mehr an das Büro für nicht zustellbare Briefe, in dem der Schreiber Bartleby in der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville arbeitet. Vor lauter Sammeln und Wegwerfen von Tausenden und Abertausenden von Briefen, die nie ihren Empfängern übergeben wurden, widersetzt sich Bartleby jeder Forderung und jedem Befehl, mit leichenhafter Ruhe und gefasster Ablehnung: „Ich möchte lieber nicht.“

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