Die Grenzen Deutschland-Polen und Polen-Slowakei aus der Fotoserie „Borderlines“

Ein Preis für verschwundene Grenzen

Die Auszeichnung der EU mit dem Friedensnobelpreis wurde vielfach als Überraschung aufgefasst. Eine Reise durch die Ruinen des „europäischen Bürgerkriegs“ erklärt aber, warum die EU ihn verdient hat.

Veröffentlicht am 10 Dezember 2012 um 08:26
Valerio Vincenzo  | Die Grenzen Deutschland-Polen und Polen-Slowakei aus der Fotoserie „Borderlines“

Dahinsiechende Grenzen, rostende Grenzen, vergessene Grenzen, verlassene Grenzen, Grenzen, an die sich niemand mehr erinnert. Eine beeindruckende Fotoserieverdeutlicht, warum der Europäischen Union der Nobelpreis verliehen wurde und weshalb die Europäer trotz der Krise, in der Europa momentan steckt, Anlass zur Freude haben.

Wer sich davon überzeugen will, braucht nur an den Zaun zu denken, mit dem sich die Vereinigten Staaten gegen Mexiko abriegeln, an die unwegsame Strecke entlang der Mauer, die Israel gebaut hat, oder an die Grenze zwischen den beiden Korea. Diese Demarkationslinien verkörpern das Scheitern der Menschen, ihre Unfähigkeit, trotz ihrer unterschiedlichen Wurzeln, Wertvorstellungen und politischen oder religiösen Überzeugungen friedlich zusammenzuleben.

Wir Europäer waren einst auch so. Die Markierungen, Schranken und Trennungslinien, die so unschuldig aussehen, zeugen in Wirklichkeit von Millionen Toten. Sie sind mit dem Blut von Hunderttausenden von jungen Menschen besudelt, die ihr Leben geopfert haben, um diese Grenzen zu schützen, die von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen überquert wurden.

Unserer Großeltern können ein Lied davon singen. Als Kinder haben sie in den Ruinen des sogenannten „europäischen Bürgerkriegs“ gespielt, eines Konflikts, der 1870 mit dem Deutsch-Französischen Krieg begann und erst 1945 nach zwei Weltkriegen ein Ende fand. Aber auch die folgende Generation erinnert sich an ein mit einem Eisernen Vorhang, wie Churchill ihn nannte, gespaltenes Europa.

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Der Kampf gegen die Grenzen

Heute ist es im Rückblick eigentlich erstaunlich, dass diese Demokratien, die der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft angehörten und nicht nur politische Werte und Wirtschaftssysteme teilten, sondern auch geschworen hatten, Schulter an Schulter und Rücken an Rücken im Rahmen der Atlantischen Allianz zu kämpfen, so lang gebraucht haben, um ihre Grenzen aufzuheben, ihre Währungen zu vereinheitlichen und ihre Grenzkontrollen abzuschaffen. Für die heutige Generation ist die Freizügigkeit und der Euro eine Selbstverständlichkeit. Aber die übrige Welt stützt sich nicht auf dieselben Kriterien.

Elsass und Lothringen, Danzig, die Sudeten und die Donau sind heute einfache historische Ereignisse, die zum Glück keine Bedeutung mehr haben. Die Europäer profitieren heute trotz ihrer Probleme von einer Art pax romana, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Römer die Völker in Europa einst mit Waffengewalt befriedeten, während die pax europaea auf rechtsstaatlichen, demokratischen Prinzipien sowie dem Respekt der Identität der einzelnen Nationen geschlossen wurde.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Grenzen […] nicht einfach verschwunden oder eines natürlichen Todes gestorben sind. Die Berliner Mauer wurde von den DDR-Bürgern gestürzt, die sich aufmachten und in der bundesdeutschen oder anderen westlichen Botschaften in Budapest und Prag um Asyl ansuchten. Und von einigen weitblickenden Politikern wie dem damaligen ungarischen Außenminister Gyula Horn, der den Stacheldrahtzaun zwischen Ungarn und Österreich eigenhändig zerschnitt. Der europäische Stolz ist legitim. Trotz aller Schwierigkeiten hat das Projekt der Renaissance in Europa überlebt. Als Immanuel Kant vom ewigen Frieden zwischen den Völkern sprach, beschrieb er einen Zustand, der dem Frieden in der Europäischen Union ähnelt.

Tausend Seiten Gesetze statt Soldaten

Die Briten mit ihrer Kriegsflotte, die Franzosen mit ihrer napoleonischen Armee, die Deutschen mit ihren Panzerdivisionen, sie alle haben Jahrhunderte lang versucht, sich gegenseitig untertan zu machen. Heute haben sie eine Methode gefunden, die viel subtiler ist, als in ein Land einzumarschieren: In der EU-Terminologie wird es gemeinschaftlicher Besitzstand oder Acquis communautaire genannt. Statt sich eines Nachbarstaats zu bemächtigen, schickt ihm die große, postmoderne Europäische Union dem einige Tausend Seiten starke Gesetzestexte, die er in sein Landesrecht übernehmen muss.

Trotz alledem stehen die Länder Schlange, um in die Union eintreten zu dürfen. Kroatien wird nächstes Jahr aufgenommen, die Türkei will trotz der Demütigung und Missachtung, die ihr widerfährt, die Verhandlungen fortführen. Hinter ihnen drängeln Mazedonien, Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und der Kosovo.

An der Peripherie dieser neuen Mitglieder liegen bald die künftigen Grenzen Europas, die, wenn das Europaprojekt überlebt, ebenfalls verschwinden werden. Dann bleiben nur noch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, von Belarus im Norden, der letzten Diktatur in Europa, über den konfliktbeladenen Kaukasus bis hin zum südlichen Ufer des Mittelmeers.

Oft wird behauptet, dass Europa auf internationaler Ebene keine Rolle mehr spielen würde. Diese Kritik an Europa ist größtenteils richtig. Valerio Vincenzos Fotos zeigen jedoch, dass weltpolitische Bedeutungslosigkeit, wenn sie auf dem Verschwinden der Grenzen zwischen den Staaten und dem Abbau der Demarkationslinien zwischen den Menschen aufbaut, eine großmütige Aufgabe ist, der sich auch die übrige Welt widmen könnte.

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