Pro-Europa-Demonstration in Kiew, 26. November 2013

Europa muss die Demonstranten unterstützen

Kurz nach dem Gipfeltreffen zur Östlichen Partnerschaft in Vilnius bekunden Hunderttausende Ukrainer überall im Land, wie sehr sie an Europa hängen. Vor diesem Hintergrund fordert Le Monde, dass sich die EU erdenklich erweisen und dieses in der Ukraine hochgelobte Freiheitsideal voll und ganz verkörpern muss.

Veröffentlicht am 2 Dezember 2013 um 16:22
Pro-Europa-Demonstration in Kiew, 26. November 2013

Es kommt selten genug vor, dass die Liebe zur Europäischen Union offen bekundet wird. Dementsprechend sollte man sich die Geschehnisse [in der Ukraine] genauer anschauen. Schließlich hat die Union vor lauter Schuldenkrise, Bemühungen um mehr Wachstum, Kampfanstrengungen gegen Arbeitslosigkeit und Maßnahmen gegen die populistische Erfolgswelle vergessen, dass sie [in den Augen anderer] nach wie vor außerordentlich attraktiv ist. Für Menschen, die in ihrem Leben nie in den Genuss eines Rechtsstaats gekommen sind, versinnbildlicht Europa Hoffnung und Freiheit, aber auch Demokratie und Modernität.

Und genau diese Botschaft vermitteln uns die mehreren Zehntausend Ukrainer, die Tag für Tag auf den Plätzen in Kiew und anderen Städten ihres Landes demonstrieren. Seitdem ihr Staatspräsident die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen mit der EU am 21. November nur eine Woche vor der geplanten Unterzeichnung ganz plötzlich abgebrochen hat, wächst die Wut der pro-europäischen Ukrainer.

Unvollendete Revolution

Unterdessen macht die Regierung in Kiew kein Geheimnis daraus, dass Russland bei diesem unverhofften Sinneswandel eine entscheidende Rolle gespielt hat: So kündigte der Ministerpräsident am Sonntag an, dass [Staatspräsident] Janukowitsch in den kommenden Tagen nach Moskau reisen werde, um dort einen „Fahrplan für die Zusammenarbeit” zu besprechen. Dabei sind zahlreiche Ukrainer der Meinung, dass ihr Land eher mit der EU zusammenarbeiten sollte, als sich mit ihrem großen Nachbarn im Osten zusammenzuschließen. Das zeigen nicht nur die Massendemonstrationen in Kiew und im Westen der Ukraine, sondern auch die mangelnden Unterstützungsbekundungen für den Präsidenten in den östlichen, russischsprachigen Gebieten des Landes.

[Am 1. Dezember] wurden die Fahnen mit dem Sternenkreis der EU auf dem „Europa-Platz” in Kiew dann aber von blauen und gelben Flaggen der Ukraine abgelöst. [[Die Forderungen einer Annäherung an Europa scheinen eine noch viel tiefgreifendere Bewegung beflügelt zu haben, die nun einen Regimewechsel verlangt]]. Offensichtlich ist die „Orange Revolution” aus dem Jahr 2004 eine unvollendete Revolution geblieben. Die Ukraine hat auf halbem Wege Halt gemacht: Der ganze pseudo-demokratische Staat ist von Korruption zerfressen. Und die Wirtschaft, die keineswegs umstrukturiert wurde, ist unaufhaltsam zusammengebrochen. Die Demonstranten von 2013 wollen Reformen, sowie einen sauberen und demokratischen Staat. Einen europäischen Staat.

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Janukowitsch ist nicht der richtige

Was kann die Europäische Union unternehmen? Sie kann weder das Wirtschaftssystem der Ukraine retten, noch die Macht stürzen. Aber sie muss ihr Angebot aufrechterhalten und auch in Zukunft bereit sein, ein Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Darüber hinaus muss sie laut und deutlich klarmachen, dass sie die pazifistischen europäischen Bestrebungen des ukrainischen Volkes unterstützt. Und dafür muss sie vor allem ihre Führungsspitzen in Brüssel und allen großen Mitgliedsstaaten mobilisieren, die viel zu lange die Augen vor den Herausforderungen in Kiew verschlossen haben.

Währenddessen liegt spätestens jetzt auf der Hand, dass Herr Janukowitsch nicht der richtige Gesprächspartner ist. Am Sonntag Abend erklärte der Präsident des ukrainischen Parlaments, dass möglicherweise eine Diskussionsrunde organisiert werden könnte, zu der der sowohl Regierungs- als auch Oppositionsvertreter geladen werden sollen. Diese Idee wurde insbesondere in Warschau begrüßt und muss unbedingt gefördert werden, denn dort versetzte die Lösung des „Runden Tischs” die Gewerkschaft Solidarnosc im Jahr 1989 in die Lage, das Ende des Kommunismus zu verhandeln. Im August 1991 war US-Präsident George Bush nach Kiew gereist, um die Ukrainer darum zu bitten, zur Aufrechthaltung der Stabilität auf ihren Traum von der Unabhängigkeit zu verzichten, und im Schoß der UdSSR zu bleiben. Vier Monate später gab es die UdSSR nicht mehr. Wir sollten diesen Fehler nicht noch einmal machen. Europa darf und kann diesen Kampf nicht verlieren.

Aus Lembergs Sicht

Es lebe die Eurorevolution!

In der Nacht vom 30. November und den ganzen darauffolgenden Tag fanden gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Berkut-Einheit, einer Spezialeinheit der ukrainischen Polizei, und den Demonstranten statt. Es gab Dutzende von Verletzten, darunter auch mehrere Journalisten. Die ukrainischsprachige Tageszeitung aus Lemberg, Wisokij Zamok, behauptet: Neun Jahre nach der Orangenen Revolutionen sei nun die „Eurorevolution“ im Gange:

Es ist ein Symbol, dass die Ukraine wieder am 1. Dezember, genau 22 Jahre nach dem Referendum zur Unabhängigkeit, der Schauplatz von Demonstrationen auf nationaler Ebene war, im Namen ihrer Souveränität, der Rechte ihrer Bürger und ihrer europäischen Zukunft.

Wisokij Zamok schreibt, manche der brutalsten Protestler seien in Wirklichkeit Provokateure, die für die Regierung arbeiteten und „250 Dollar pro Tag“ bekämen, um Zwietracht zu stiften und öffentliche Gebäude anzugreifen – damit die Bewegung in Misskredit gebracht würde. Und trotzdem meint die Zeitung:

Es bleibt [Janukowitsch] kein anderer Ausweg nach dem Fiasko von Freitag in Vilnius und dem blutigen Samstag in Kiew.

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