Europas Sputnik-Schock

Der US-Abhörskandal sollten den Europäern eine Lehre sein. So wie der sowjetische Sputnik damals die Amerikaner dazu brachte, den ersten Menschen auf den Mond zu schießen, sollte Europa nun schleunigst mit der Aufholjagd im IT-Bereich beginnen.

Veröffentlicht am 30 Oktober 2013 um 12:16

Den „Whistleblower“-Preis hat Edward Snowden bereits erhalten. Aber eigentlich müsste das Bundeswirtschaftsministerium dem NSA-Überläufer auch noch den Förderpreis der deutschen IT-Industrie überreichen. Denn in den vergangenen Jahren hat kein Manager, kein Wissenschaftler und auch kein Politiker den deutschen und europäischen Anbietern in der Telekommunikations- und Informationsindustrie einen derartigen Impuls gegeben wie Snowden mit seinen Enthüllungen über die amerikanischen und britischen Geheimdienste.

Doch die Freude in der Berliner Politik hält sich aus verschiedenen Gründen in Grenzen. Während der NSA-Skandal die Nachfrage nach deutscher Verschlüsselungssoftware unverhofft in die Höhe treibt, erlebt die deutsche Politik einen Schock: Edward Snowden hat mit seinen Enthüllungen den endgültigen Beweis dafür geliefert, dass Europa weder die Daten seiner Bürger wirksam schützen kann noch selbst über eine konkurrenzfähige IT-Industrie verfügt. Hardware, Software, Leitungen und Internetangebote kommen vor allem von Konzernen aus den USA – oder aus China. Auch die Infrastruktur des Internets wird von den USA aus dominiert, wo sich die Mehrzahl der wichtigsten Server befindet. Deutschland und die EU-Staaten sind bestenfalls digitale Kolonien.

Europas letzte Chance

Was bisher aber häufig übersehen wird: Neben dem Spionagekrimi, dessen Hauptakteur er selbst ist, hat Edward Snowden mit seinen Enthüllungen auch den transatlantischen Wettbewerb um Marktanteile in der IT-Industrie neu entfacht. Der NSA-Skandal bietet Europa die wahrscheinlich letzte Chance, die Lücke zu den weit vorausgeeilten Amerikanern zu schließen. Insofern ähnelt die aktuelle Situation dem Sputnik-Schock in den USA 1957, als es den Russen gelang, als erste Nation einen Satelliten ins Weltall zu schießen. Die Amerikaner waren konsterniert, aber dann setzten sie alles daran, in der Raumfahrt die Nummer eins zu werden und schickten schließlich den ersten Mann auf den Mond.

Die Konstellation ist vergleichbar – [[Europa muss alles tun, um nicht endgültig in einem Rennen um strategische Technologien abgehängt zu werden]]. „Wir sind Gefangene der amerikanischen IT-Firmen. Es braucht diese Art von Skandal, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen“, sagt Octave Klaba, Chef des französischen Konzerns OHV, der Cloud-Server anbietet, in denen Privatleute und Unternehmen ihre Daten online speichern können.

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Milliarden für Europas IT-Branche?

Dabei hat es vorher nicht an Warnungen gefehlt: So trommelt die französische Regierung bereits seit 2011 dafür, dass wegen der strategischen Bedeutung des IT-Sektors eine europäische Gegenwehr nötig sei. Frankreich fördert den Aufbau einer eigenen Serverindustrie mit 200 Millionen Euro. Das ist zwar ein Klacks gegen die Milliarden­investitionen von Internetriesen wie Microsoft, Amazon oder Google. Aber dank Snowden spürt auch die zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes Aufwind für ihre Pläne, mit Steuerzahlergeld die europäische IT-Branche zu fördern und eine eigene europäische Infrastruktur aufzubauen. In der Kommission wird nachgedacht, Milliarden aus den EU-Strukturfonds zur Verfolgung dieses Zieles umzuleiten.

[[Die entscheidende Rolle bei der Aufholjagd müsste Deutschland spielen]], das bisher vor allem deswegen zu den Bremsern gehört, weil man in Berlin industriepolitische Initiativen aus Paris traditionell mit Skepsis betrachtet. Ein Wandel der deutschen Position zeichnet sich aber ab. Schon bei der Eröffnung der Hannover-Messe im April hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel betont, Europa und vor allem Deutschland sollten sich mit der „Industrie 4.0“, also der Fusion von Produktion und IT-Welt, wieder eine weltweite Führungsposition erobern. Der Schock durch die Merkelphone- und NSA-Debatte liefert nun einen emotionalen Schub, um die notwendigen politischen Entscheidungen durchzusetzen.

Auf zu den Wolken

In den USA selbst ist die Debatte über die wirtschaftlichen Konsequenzen von Snowdens Enthüllungen in vollem Gange. Eine Studie der unabhängigen Denkfabrik Itif in Wa­shington zeigt, dass die Dominanz der US-Riesen beim Ausbau der weltweiten Cloud-Kapazitäten gefährdet ist: Die Itif-Experten erwarten wegen des Vertrauensverlusts in den kommenden drei Jahren Umsatz­einbußen von 22 bis 35 Milliarden Dollar. Genüsslich legte EU-Kommissarin Kroes kürzlich bei einem Branchentreffen in Tallinn den Finger in die Wunde: „Wenn europäische Cloud-Kunden der US-Regierung oder deren Beteuerungen nicht trauen können, werden sie vielleicht auch US-Cloud-Anbietern nicht mehr trauen.“ In anderen Worten: [[Die Neuverteilung der 22 bis 35 Milliarden Dollar Umsatz sollte deutsche und europäische Cloud-Firmen beflügeln]], selbst in großem Maßstab in einen bereits verloren geglaubten Markt zu investieren.

Eine seltsame, der bisherigen Globalisierung entgegenlaufende Rhetorik erhält Einzug: Französische Cloud-Anbieter wie der Telekommunikationskonzern SFR werben damit, dass französische Daten am sichersten in Frankreich gespeichert werden. Nun folgen die deutschen Konkurrenten mit entsprechenden Angeboten. Nach Umfragen wollen mehr als die Hälfte der deutschen Mittelständler ihre Daten tatsächlich nur noch in deutschen Rechenzentren ablegen – wenn sie überhaupt noch Clouds nutzen.

Kontext

Offensichtlicher Rückstand

„Diese Spionage-Affäre zeigt uns, dass das Machtverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Europa auf der gesamten digitalen Informationskette heute wahrscheinlich 1:100 beträgt“, erklärt Kolumnist Eric Le Boucher in Les Echos.

Der Journalist diagnostiziert radikal unterschiedliche Einstellungen bei Amerikanern und Europäern hinsichtlich des Gleichgewichts zwischen Datensicherheit und Freiheit:

Die digitale Revolution bietet Amerika einen doppelten Vorteil. Einerseits fällt es den Vereinigten Staaten generell leichter, Tausende von Anwendungen und Arbeitsplätzen zu entwickeln, die auf diesen „Daten“ aufbauen werden. Je mehr Daten die Maschinen sammeln, desto besser werden die potentiell gebotenen Dienste. Dabei spielt auch ein Vertrauen in das Wirtschaftssystem eine Rolle, das in den Vereinigten Staaten ganz natürlich ist, in Frankreich allerdings nicht. Andererseits sind die Daten sammelnden Unternehmen bereits fast alle amerikanisch, sie haben einen beträchtlichen Vorsprung gegenüber eventuellen Rivalen, die in Europa an den Start gehen wollten. Diese werden ihnen die Daten, die Europäern „gehören“, abkaufen müssen – sofern die Amerikaner überhaupt verkaufswillig sind. Das ist der große Datenklau... [...] Um den Kreis zu schließen, muss man hinzufügen, dass die Milliarden Daten meist in großen Zentren auf amerikanischem Boden gespeichert werden, zu welchen die US-Sicherheitsdienste auf völlig undurchsichtige Weise Zugang haben. Im Internet ist alles miteinander verbunden: Verteidigung, Freiheit, Wirtschaft. Die digitale Revolution lässt diese Grundlagen Europas einstürzen.

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