Für ein europäisches Volk

Da es keine europäische Nation gibt, in der Solidarität selbstverständlich ist, muss ein Volk mit einem gemeinsamen politischen Projekt gebildet werden, meint ein spanischer Philosoph. Die Europawahlen 2014 sollten dafür der erste Schritt sein.

Veröffentlicht am 1 Oktober 2013 um 14:50

Da Spanien keine ethnische Nation ist, glauben die Nationalisten die Möglichkeit zu haben, eine eigene politische Nation zu gründen. Analog dazu hört man, dass es kein europäisches „Volk“ gibt und dass wir deshalb das Projekt einer Union erst gar nicht in Angriff nehmen sollten. Die Verwaltung eines Staats ohne gemeinsame Sprache und Kultur mag mit Risiken behaftet sein, aber die Idealisierung und Verherrlichung einer gemeinsamen Sprache und Kultur ist gewiss viel gefährlicher.

Der Nationalismus bedient sich des kosmopolitischen Bilds der konzentrischen Kreise, um die Solidarität auf die Seinen zu beschränken: Neben der Familie sowie den Freunden und Bekannten bleibt im Herzen nur noch Platz für die „große Familie“ der Landsleute, mit denen man dieselbe Sprache und eine bestimmte Weltanschauung teilt. Die naturalistische These der altruistischen Entwicklung in konzentrischen Kreisen ist jedoch falsch. Und es ist absurd, die Solidarität auf jene auszuweiten, die mit mir „das Volk“ bilden.

Eine gemeinsame soziale Welt

Dies alles beruht auf einem noch schlimmeren Trugschluss, dem zufolge Sprachgemeinschaften sich so stark unterscheiden, dass sie Anrecht auf politische Selbstbestimmung haben. In der Tat erschwert das Fehlen einer gemeinsamen Sprache in Europa die spontane öffentliche Debatte. Daran können wir arbeiten. Schließlich sind wir einer Sprache würdig, mit der wir die Welt denken können. Die Sprache gestaltet nicht nur Mikrowelten, mit denen die soziale Realität unterteilt wird, sondern ist auch ein Instrument, mit dem wir kommunizieren und unsere kulturelle Konditionierung reflektieren können. Das Erlernen einer Fremdsprache, Übersetzungen und die Unterstützung der Menschenrechte beweisen, dass wir unabhängig von der Sprache eine gemeinsame soziale Welt denken, weil wir alle mit den praktischen Problemen konfrontiert sind, die sich daraus ergeben.

Beschäftigen wir uns nun mit der Konsequenz dieser doppelten Prämisse: Da wir uns unterscheiden und der Altruismus beschränkt ist, müssen wir die Justiz auf die Unsrigen beschränken. Diese Behauptung widerspricht jeglicher demokratischer Normativität: Wenn die uns betreffenden Probleme supranational sind, dann muss der politische Rahmen, der zu ihrer Lösung dienen soll, selbstverständlich auch supranational sein.

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Die Wiederherstellung der übel zugerichteten Souveränität des Volkes erfordert die politische Integration der EU und die Schaffung eines neuen Demos. Dies sollte dann wiederum zur Kosmopolitisierung des internationalen Rechts führen, das heute die mächtigsten Staaten begünstigt. Im Verlauf dieses Prozesses entsteht dann ein Recht von Weltbürgern für Weltbürger. Aber was sollen wir mit einer EU machen, die Schiffbruch erleidet, weil ihr die Grundlagen für eine starke transnationale Demokratie fehlen?

Mehr Macht dem Parlament

Wir müssen auf das Recht zurückgreifen, um die soziale Realität gezielt anzupassen. Jürgen Habermas meint, alle Bestandteile der menschlichen Kultur, auch der Diskurs und die Sprache, wären soziale Konstrukte. Diese Konstrukte werden meistens nicht mit Absicht geschaffen. Eine Ausnahme bilden jedoch gesetzliche Bestimmungen. Wenn wir nun die kulturellen Strukturen, die uns bestimmen (Grenzen, Institutionen, Regelsysteme, Sprache etc.), aufbrechen und die Solidarität erfolgreich internationalisieren wollen, müssen wir dem Parlament mehr Macht verleihen, damit die Bürger zusammen mit dem Europäischen Rat (in dem die Staaten vertreten sind) Gesetze erlassen, und wahrhaft europäische politische Parteien gründen.

Auf diese Weise würden wir einem gemeinsamen Projekt neues Leben einhauchen, aus dem wir gegenwärtig nur Nutzen für unser eigenes Land ziehen wollen. [[Wahrhaft europäische Parteien würden sicherstellen, dass wir über die vielen gemeinsamen Probleme demokratisch abstimmen können]]. Die Medien würden die wesentlichen technischen Informationen und die auf dem Spiel stehenden Interessen öffentlich behandeln, während die florierende europäische Zivilgesellschaft, die dazu beiträgt, die individuellen Interessen in einem umfassenderen politischen Rahmen zusammenzuführen, die grenzüberschreitende öffentliche Debatte unterstützt.

Die Erweiterung des Demos

Wenn alle Europäer Mitbürger sind, mit denen wir paktieren, entstehen neben der „accountability” und der „responsiveness” die solidarischen Bande und das Zusammengehörigkeitsgefühl, die alle autonomen Demokratien auszeichnen. Das wird nicht sehr kompliziert sein für alle, die bereits viele Erfahrungen miteinander teilen (von Weltkriegen bis hin zu einem aufgeklärten Verstand, mit dem Probleme praktisch angegangen werden: Toleranz, Rechtsstaat, Demokratie etc.), so dass wir eine umfassendere und abstraktere gemeinsame Identität aufbauen können, die so stark ist, dass ein Deutscher akzeptiert, Steuern für einen Griechen zu zahlen.

Die Wahl europäischer Parteien mit wahrer legislativer (und exekutiver) Macht würde auch die kritischen Stimmen verstummen lassen, die der EU nicht nur ihr bürokratisches und merkantilistisches Verhalten, sondern auch den zwischenstaatlichen Aufbau vorwerfen, der die Schwächeren zwingt, sich den Wünschen der Stärkeren zu beugen. Nur wenn es Alternativen und Alternanz gibt, wird die EU nicht mehr als elitäres Unterfangen, sondern als politisches Projekt gelten, das nicht scheitern darf. Ein Projekt, das von den Parteien, die Rechenschaft ablegen müssen, wenn sie nicht abgewählt werden wollen, nicht mit Beschlag belegt, sondern geleitet wird.

Nur die Erweiterung des Demos kann zu einer besser verteilten und effektiveren Volkssouveränität führen. Statt gegen ein politisches Europa Stellung zu beziehen, sollte die Linke sich lieber mit dem Abbau der aktuellen monolithischen Struktur befassen.

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