Ideen Europäische Union

Gemeinsam die Zukunft gestalten

Die Portugiesen erhofften sich viel von der EU-Mitgliedschaft. Heute ist ihre Ernüchterung groß. Doch für sie, genau wie für alle anderen Europäer, liegt die Zukunft in der Schaffung eines öffentlichen Raums und der Entwicklung von politischen und wirtschaftlichen Netzwerken.

Veröffentlicht am 21 November 2013 um 12:34

Europa war für Portugal nach dem tragischen Ende als Kolonialmacht das Versprechen einer neuen Zukunft, um es mit den Worten [des ehemaligen Ministerpräsidenten] Mário Soares zu sagen. Mit der europäischen Integration haben die Portugiesen eine neue Wertegemeinschaft, die Demokratie und die Solidarität entdeckt, das exakte Gegenteil der zynischen Diktatur. Sie verhieß gewissermaßen eine Lebensqualität, die über das reine Wirtschaftswachstum hinausgehen sollte.

Die Portugiesen stellen sich kaum die Frage, ob die schwere Krise, die sie durchleben, ein europäisches Problem ist. Im Allgemeinen denken sie, dass die Krise hausgemacht ist, sie allein sind verantwortlich, sie allein sind schuld daran. Verantwortlich, weil sie zu früh zu Europa gehören wollten und weil sich ihr Wunsch, sich als Europäer zu verstehen, sozusagen eine Anmaßung war.

Sie hätten besser daran getan, noch viele lange Jahre „mit Würde arm zu sein“, und „Analphabeten, wenn’s denn sein muss“. Sie hätten auf ihren Straßen, wo an jeder Ecke der Tod lauert, sich „auf Eseln fortbewegen sollen“. Welch eine Torheit, studieren, sich ernähren, reisen zu wollen, anders gesagt, leben zu wollen, wie die Bürger des reichen Europas! Siebenundzwanzig Jahre sind seit dem EU-Beitritt vergangen, und die europäische Zukunft Portugals bleibt weiterhin eine Utopie!

Dabei tragen die Staats- und Regierungschefs der Länder, die „noch nicht so tief in der Krise stecken“, Verantwortung für das Schuldgefühl der Portugiesen. Sie sind diejenigen, die sagen, dass die Portugiesen, ebenso wie die Spanier und Griechen, Bürger eines anderen Europas seien, des „Südens“ — so der Sammelbegriff, der weiterhin die innere Spaltung Europas symbolisiert, obwohl Portugal und Spanien Vollmitglieder der Europäischen Union sind. Und heute ist dieses Nord-Süd-Gefälle zu einer Bedrohung für die europäische Einheit geworden.

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Vor gleichen Herausforderungen

Trotz der wachsenden Skepsis eines Großteils der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien, ist Portugal eine solide Demokratie. Die Alphabetisierungsgrate liegt bei 94,8 Prozent, und die Anzahl der Gymnasiasten und Studenten steigt stetig. Zwischen 1991 und 2011 hat sich die Zahl der Hochschulabsolventen verdreifacht. Ebenso sie Zahl der Doktoranden und Wissenschaftler. Die Portugiesinnen haben sich emanzipiert.

Eine ganze Generation von Portugiesen nutzt heute effizient die Technologien der Informationsgesellschaft, und die sozialen Netzwerke stellen ein riesiges Forum für die Mittelschicht dar: 60 Prozent der Portugiesen haben Zugang zu Breitband-Internet. All dies in einem Land, welches das europäische Sozialmodell übernommen hat und über ein ordentliches Gesundheitssystem verfügt, trotz aller Einschnitte aufgrund der Sparpolitik. Des Weiteren gibt es ein modernes Infrastrukturnetz, wenn auch nicht voll ausgelastet.

Europas Schicksal ist heute auch Portugals Schicksal: Alle Mitgliedsstaaten stehen vor derselben Herausforderung. [[Es muss ihnen gelingen, die Begabungen aller zu nutzen, und die Solidarität muss wieder zum Flagschiff der Europäischen Union werden.]]

Alle globalen Studien der Trendforschung sind sich einig, dass der relative Niedergang Europas unausweichlich ist. Allerdings könnte daraus — sollte nichts getan werden, um die europäische Krise in den Griff zu bekommen — auch ein endgültiger Niedergang werden. Die Fakten sind bekannt: eine alternde Bevölkerung, zu wenig gemeinsame Politik, Verzögerungen bei der technologischen Innovation, beispielsweise in den Bereichen Biotechnologien und 3D-Druck, weniger Solidarität, was wiederum die Sozialsysteme bedroht und schließlich die Renationalisierung der Außenpolitik seitens der großen EU-Länder, und das ausgerechnet in einer Welt, die multipolar geworden ist.

Fehlender öffentlicher Raum

So gesehen ist es umso absurder — und offenbart das Fehlen einer angemessenen Antwort auf die Krise —, dass Tausende von jungen Menschen, darunter viele Portugiesen, ohne Arbeit sind, und sich woanders eine Zukunft suchen müssen. Europa braucht seine Jugend, um ein neues Entwicklungsmodell zu schaffen.

Die Fakten sind bekannt, doch Europas Hauptproblem ist politischer Natur und wird gern ausgeblendet. Es fehlt Europa der öffentliche Raum, es fehlen die Mechanismen einer supranationalen politischen Beteiligung der Bürger. Genau deshalb ist eine gemeinsame Antwort der Europäer auf die Krise quasi unmöglich. Genau daraus erklärt sich, mit welcher Leichtigkeit die Sparpolitik — mitverantwortlich für die Rezession — umgesetzt werden konnte, auch wenn diese nicht nur unpopulär ist, sondern vor allem wirkungslos.

Auch die „Empörten“ sind es auf nationaler, nicht auf europäischer Ebene. Man könnte meinen, dass sich die Krise ausschließlich innerhalb der Landesgrenzen abspielen würde und deshalb von jedem Staat auf eigene Faust gelöst werden müsste. Diese Re-Nationalisierung der Krise hat übrigens noch eine weitere negative Auswirkung: [[die verarmende Mittelschicht stellt nach und nach die Demokratie in Frage und meint, es gäbe ohnehin keine Freundschaft mit anderen Ländern, ob innerhalb der EU oder anderswo.]] Hier liegt einer der Gründe, warum der Populismus und die Fremdenfeindlichkeit in Europa so erschreckend zunehmen.

Die Portugiesen (und ihre Parteien) müssen begreifen, dass die Lösungen nur auf europäischer Ebene gefunden werden können. Es müssen grenzübergreifende europäische Bewegungen und Netzwerke geschaffen werden — auf traditionellen oder modernen Weg — , damit eine Verbindung von den Bürgern und den Parteien geschaffen wird, die Raum für alternative Politikvorschläge lässt. Nur so kann der Weg aus der Krise gefunden werden. Nur so kann der endgültige Niedergang des wohl großartigsten Projektes des 20. Jahrhunderts abgewendet werden. Die Europawahlen 2014 sollen Anlass für die große Debatte über Europas Zukunft sein, welche in der heutigen Lage umso notwendiger ist. Nur mit ihr können die Bedingungen für das Überleben und die Relevanz der Europäischen Union im 21. Jahrhundert geschaffen werden.

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