V.l.n.r.: SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, Ex-Bildungsministerin Annette Schavan, FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg

Im Land der Braven

Kleine Fehltritte können in Deutschland riesige Wirkung entfalten. Minister stolpern reihenweise über Skandale um abgeschriebene Doktorarbeiten oder Einladungen zu Fernreisen. Warum ist der Deutsche so erregbar?

Veröffentlicht am 15 Februar 2013 um 12:36
V.l.n.r.: SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, Ex-Bildungsministerin Annette Schavan, FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg

Skandal! Der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle hat eine Riesendebatte über Sexismus ausgelöst, weil er einige anzügliche Worte [zu einer Journalistin] gesagt und einen Blick auf [ihren] Busen geworfen hat.

Skandal! Annette Schavan arbeitete bei ihrer Doktorarbeit nicht korrekt. Sie musste zurücktreten, hat aber als Bildungsministerin nach Ansicht vieler einen guten Job gemacht.

Skandal! Kanzlerkandidat Peer Steinbrück [SPD] verdiente nebenbei 1,25 Millionen Euro, das aber legal, und er hat das Geld korrekt versteuert.

Skandal! Der damalige Bundespräsident Horst Köhler empörte halb Deutschland, weil er auf einer Afghanistan-Reise sagte, dass die Bundeswehr auch ökonomische Interessen vertrete, das aber stand so ähnlich auch in einem Papier des Verteidigungsministeriums.

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Skandal! Bundespräsident Christian Wulff verlor sein Amt, weil ihm unterstellt wurde, er könne korrumpierbar sein, aber dabei geht es letzten Endes nur um 400 Euro.

Wer sich die bundespolitischen Skandalfälle der ablaufenden Legislaturperiode anschaut, findet eine Substanz, die recht mickrig wirkt. Das gilt auch für den Rücktritt von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der bei seiner Doktorarbeit getäuscht hatte. Im Ausland war man amüsiert, dass sich die Deutschen wegen solcher Dinge empören. Entweder sind sie ungeheuer kleinlich oder so verwöhnt, dass sie schon minimale Fehltritte aufgreifen müssen, um sich einmal in Rage bringen zu können.

Andere haben Wilderes zu bieten

Andere haben Wilderes zu bieten. Der österreichische Ex-Minister Ernst Strasser wurde kürzlich vorläufig wegen Bestechlichkeit zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Franzose Dominique Strauss-Kahn, einst Aspirant für die Präsidentschaft, geriet in den Verdacht, ein Zimmermädchen zum Oralsex genötigt zu haben. Der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi ist des Amtsmissbrauchs und der Beihilfe zur Prostitution Minderjähriger angeklagt. Wegen Steuerhinterziehung drohen ihm vier Jahre Gefängnis.

Deutschland wirkt dagegen wie ein Idyll für Spielzeugeisenbahnen. Aber ruhig ist es deshalb nicht. Über die genannten Fälle haben alle politischen Medien ausführlich berichtet, haben die Details zusammengetragen, spitze Schlagzeilen gefunden. Die Bürger zeigten sich von alldem beeindruckt, die betroffenen Politiker rutschten in den Umfragen ab. Wegen so wenig?

Ein Land spiegelt sich in seinen politischen Skandalen. In der Empörung zeigt sich der Charakter einer Nation. Genauso in der Nicht-Empörung. Der italienische Psychoanalytiker Sergio Benvenuto hat im Jahr 2010 in Lettre International über Italien geschrieben, Berlusconi mache Politik für die Sportsbar, für „das Reich der political incorrectness“, wo es derbe zugeht, wo man Politiker hasst, es sei denn, sie sind so unpolitisch wie Berlusconi. Damit erklärte Benvenuto, warum der sich so lange halten konnte.

Die Sportsbar ist nicht der Ort, für den in Deutschland Politik gemacht wird. Deutschlands Zentrum ist der Bio-Supermarkt, wo Frauen und Männer mit ihren Einkäufen an einer besseren Welt arbeiten. Hier herrschen die Prinzipien Verantwortlichkeit, Empfindsamkeit, Korrektheit. Dies ist eine saubere Welt, keine verruchte wie die Sportsbar. Für das, was ein politischer Skandal ist, hat der Bio-Supermarkt eine weit niedrigere Schwelle.

Geld, Rechtschaffenheit und Krieg

Wo liegen die Empfindlichkeiten? In den Fällen Schavan (CDU) und Guttenberg (CSU) geht es um Rechtschaffenheit. Die Politiker sollen nicht lügen, sie sollen nicht Titel tragen, die sie nicht verdient haben.

Horst Köhlers Worte konnten skandalisiert werden, weil es in der Bundesrepublik eine hohe Sensibilität in Kriegsfragen gibt. Nach den beiden Weltkriegen will diese Nation mit Kampfeinsätzen nichts mehr zu tun haben. Wenn es dann noch um Wirtschaftsinteressen gehen soll, ist das absolut unerträglich, weil die Deutschen Krieg allenfalls aushalten, wenn er moralisch einwandfreien Zwecken dient. Wirtschaftsinteressen sind der Wirtschaftsnation Deutschland suspekt. In Skandalen enthüllt sich häufig auch Doppelmoral.

Bei Wulff (CDU) und Steinbrück (SPD) geht es um Geld und den Verdacht, Politiker könnten sich einen Lebensstil gönnen, der sie von der breiten Masse entfernt. Wulff steht zusätzlich unter dem Verdacht, korrupt gehandelt zu haben. Deutschland sieht sich gern als ein sauberes Land, in dem die Dinge gut funktionieren, weil nicht geschmiert wird. Deutschland sieht sich auch gern als ein halbwegs egalitäres Land, in dem Reichtum verpönt ist.

Das zusammen ergibt das Bild von einer Nation, die korrekt sein will, mit Geld, mit Krieg, mit Biografien, die sozialen Zusammenhalt schätzt und keinen wütenden Streit will. Wir sind die ewig Braven.

Dass ein kleiner Skandal großen Raum finden kann, liegt zum einen daran, dass die wichtigen politischen Fragen hierzulande nicht polarisieren. Über die europäische Krisenpolitik, die Energiewende und die Bundeswehr herrscht Konsens der staatstragenden Parteien. Zum anderen passieren kaum schwerwiegende politische Skandale. Würde Finanzminister Wolfgang Schäuble dabei erwischt, dass er Steuern hinterzieht, wären Steinbrücks Nebenverdienste oder Schavans Doktorarbeit Stoff für hintere Seiten.

Skandale dienen der Auslese

Diese Empfindsamkeit kann natürlich lächerlich wirken, aber im besten Fall dient sie der Prävention, dient sie der Bestätigung von Standards, die dieses Land zu einem der reichsten und bestfunktionierenden der Welt gemacht haben. In der Aufwallung gegenüber dem Kleinen liegt auch die Angst vor dem Großen, sie ist ein Frühwarnsystem. Italienischen Verhältnissen wäre das deutsche Gemüt nicht gewachsen. Der Bio-Supermarkt ist auch ein nervöser Ort: Hoffentlich passiert nichts Schlimmes mit der Welt.

Ohne Frage liegt in der überscharfen Korrektheit auch eine Biederkeit. Das ist nicht unbedingt anziehend, und auch hierzulande gibt es eine große Sehnsucht nach Italien und auch nach der Wildheit, aber in der Not wäre man dann doch lieber der deutschen Justiz ausgesetzt.

Die Verfehlungen deutscher Politiker stellen nach hiesigen Maßstäben die Eignung eines Politikers für sein Amt in Frage. So dienen die Skandale der Auslese. Wer eignet sich für ein hohes Amt und wer nicht.

Dass die Standards in Deutschland so hoch sind, ist kein Grund, sich besser zu fühlen. Sie sind Ausdruck einer Notwendigkeit. In der Sportsbar geht es sicherlich oft lustiger zu als im Bio-Supermarkt, aber die Deutschen müssen vor allem korrekt sein, um sich aushalten zu können.

Geschichte

Die unberührbare deutsche Universität

Zwei Buchstaben, ein Punkt und eine lange Geschichte: „ Im deutschen ,Dr.‘ stecken ein paar hundert Jahre Bildungsgeschichte”“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Die Münchner Tageszeitung erklärt, wie ein unlauter erworbener akademischer Grad einmal mehr einen Minister zu Fall gebracht hat.

Für die Deutschen verheiße der Namenszusatz „eine Art Adel“. Die Universität sei bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die wichtigste gemeinsame Institution des deutschen Sprachraums gewesen, notiert die SZ.

Anders als die Italiener, die den „dottore“ als lustige Figur der venezianischen Komödie kennen, anders als die Österreicher, für die der Titel halbernst mit einer alltäglichen Prunksucht einhergehe, anders die Franzosen, die einen großen zwischen „haute école“ und Universität machen, anders als für die Briten, die eher auf den Namen der Universität als auf den akademischen Grad gucken, seien die Deutschen überzeugt, dass „die deutsche Universität einen einzigartigen Ort des Wissen verbirgt, selbst wenn die Wirklichkeit heute anders aussieht.“

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