Nachrichten Bundestagswahlen 2013
Fußgänger vor einem Wahlplakat der Partei „Die Linke”, München, 2. September 2013.

„In zehn Jahren sind wir in der Regierung”

Bei den Bundestagswahlen wird einer von zehn Wählern ausländischer Herkunft sein. Um diese mehr als 5,5 Millionen Stimmen kämpfen die Parteien, indem sie in ihre Listen allmählich auch Kandidaten mit Migrationshintergrund aufnehmen.

Veröffentlicht am 10 September 2013 um 14:56
Fußgänger vor einem Wahlplakat der Partei „Die Linke”, München, 2. September 2013.

Berlin, Garten des Kronprinzenpalais. Hier laden die Christdemokraten (CDU) zum Sommerfest ein. Verkehrsminister Peter Ramsauer posiert traditionell mit einem bayrischen Bierhumpen. Kanzlerin Angela Merkel hat ganz offensichtlich eine andere Wählerschaft im Visier. Im Blitzlichtgewitter der Fotografen schneidet sie Fleisch für einen Döner. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Wahl immer näher rückt. Am 22. September wählt Deutschland die Mitglieder des neuen Bundestages. „Die Einwanderer werden für die politischen Parteien immer wichtiger”, stellt Orkan Kösemen fest. Der für die Bertelsmann Stiftung arbeitende Politikwissenschaftler analysierte in einer Studie das Wahlverhalten von Migranten. Heute hat bereits jeder zehnte Wahlberechtigte einen Migrationshintergrund. Es geht um nicht weniger als 5 ,5 Millionen Stimmen.

Die politische Einstellung der Migranten war nach dem Kalten Krieg leicht zuzuordnen. Wähler mit polnischer oder sowjetischer Herkunft stimmten traditionell für die Christdemokraten. Die CDU unter Helmut Kohl und Franz Josef Strauss’ bayrische CSU symbolisierten den Antikommunismus. Ehemalige Gastarbeiter aus der Türkei oder den arabischen Ländern standen den Sozialdemokraten der SPD näher. Das ist auch heute noch so, aber die Stimmen der Migranten werden immer mehr von den Grünen oder der postkommunistischen Linken umworben.

„Deutschland schafft sich ab”

Cem Özdemir, Sohn eines Tscherkessen und einer aus Istanbul stammenden Türkin, ist heute Vorsitzender der Grünen. Die Partei kann auf ihren Wahllisten die größte Anzahl an Kandidaten (23) mit Migrationshintergrund vorweisen. Schon heute sitzen für die Grünen im Bundestag Abgeordnete mit türkischer, iranischer oder, wie im Fall von Agnieszka Brugger und Jerzy Montag, polnischer Abstammung.

In dieser politischen Landschaft erstaunt die Ausländerfeindlichkeit eines Teils der SPD-Wählerschaft, der weit größer als bei der CDU ist und die nur wenig von den rechtsextremen Wählern übertroffen wird. Die ausländerfeindliche Facette der Sozialdemokraten wird stark mit Thilo Sarrazin assoziiert. Der frühere Berliner Senator und Mitglied des Bundesbankvorstands veröffentlichte vor drei Jahren das Buch Deutschland schafft sich ab, ein provokantes Manifest gegen Immigranten aus muslimischen Ländern.

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„Die SPD ist ohne Zweifel eine Partei von Migranten”, meint die türkischstämmige stellvertretende Parteivorsitzende Aydan Özoğuz. Dennoch haben die Sozialdemokraten während ihrer Regierungszeit das wichtigste Versprechen für viele Wähler mit Migrationshintergrund nicht gehalten: das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft. Kinder von Immigranten, die heute in Deutschland geboren werden, müssen sich mit ihrer Volljährigkeit zwischen dem deutsche Pass oder dem des Herkunftslandes ihrer Eltern entscheiden. Die Sozialdemokraten scheinen jedoch weder unter der Sarrazin-Affäre noch den nicht gehaltenen Versprechen zu leiden, da sie fast zwei Drittel der türkischstämmigen Deutschen für sich gewinnen können. Einer Umfrage des Instituts 4U zufolge, dürften nur 7 Prozent dieser Gruppe für die CDU stimmen.

„Der Spagat der Konservativen”

Laut Umfragen liegen die Christdemokraten für die Bundestagswahlen zwar momentan vorn, sie erleiden aber, wenn es um das Amt des Bürgermeisters in den großen Städten geht, regelmäßig Wahlschlappen. Angela Merkel hat es geschafft, den Widerstand in den eigenen Reihen bei so wichtigen Fragen wie dem Atomausstieg oder der Abschaffung der Wehrpflicht zu brechen. Bei der Einwanderungspolitik hingegen bleibt sie sehr zurückhaltend. Ja zu neuen Herangehensweisen, aber ohne substantiellen Politikwechsel.

Die Zeit ist reif für gutgemeinte Gesten gegenüber den Immigranten. Es kommt vor, dass Muslime wichtige Ämter unter den Führungskräften der CDU einnehmen. Vor drei Jahren wurde die in Hamburg geborene, türkischstämmige Aygul Özkan Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in Niedersachsen. Damit wurde erstmals eine deutsche Politikerin türkischer Abstammung Landesministerin. Die Titelseiten der Zeitungen lobten das „moderne Gesicht der CDU”. Einige Parteimitglieder waren allerdings irritiert, vor allem als Özkan äußerte, dass ein Kruzifix in öffentlichen Schulen nichts zu suchen habe.

In ihrem Wahlprogramm lehnt die CDU die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, den Vorschlag einer doppelten Staatsbürgerschaft und das Stimmrecht bei Kommunalwahlen für Ausländer, die nicht aus einem EU-Mitgliedsland stammen, entschieden ab.

Die Wahlchancen für die CDU innerhalb der islamischen Gemeinschaft haben sich durch den jüngsten Artikel des Spiegels auch nicht sonderlich verbessert. Die Wochenzeitung zitiert ein freigegebenes Gesprächsprotokoll aus dem Jahr 1982 zwischen dem damaligen Kanzler Kohl und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Darin verhehlt Kohl nicht, dass er gern die Hälfte der in Deutschland lebenden Türken loswerden wolle, indem er die bezahlt, die zum Gehen bereit wären.

„11% sind für einen Kanzler mit Migrationshintergrund

Damals schockierten solche Äußerungen nicht. „Heute wäre es sehr schwierig, eine Wahl mit einer Kampagne gegen Migranten zu gewinnen”, ist sich Orkan Kösemen sicher. Dennoch ist die deutsche Gesellschaft weit davon entfernt, offen zu sein. Nur 11 Prozent der Deutschen würden einen zukünftigen Kanzler mit Migrationshintergrund begrüßen. Fast ein Drittel der Bevölkerung wäre damit sogar unzufrieden, glaubt man den Umfragen des Instituts YouGov.

Bei den diesjährigen Bundestagswahlen findet sich in drei von sechzehn Bundesländern das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG) auf den Stimmzetteln. Die von Muslimen gegründete Partei repräsentiert die Migranten in Deutschland. „In zehn Jahren sind wir in der Regierung”, glaubt Ismet Misirlioglu, ein führendes Parteimitglied. Seine Behauptung ist zweifelsohne übertrieben, aber die traditionellen Parteien sollten solche Äußerungen ernst nehmen. Wenn sie die Migranten früher oder später enttäuschen, werden sich diese neuen politischen Gruppierungen zuwenden.

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