Jeder für sich

Veröffentlicht am 30 November 2012 um 15:51

Das diplomatische Ereignis der Woche ist die Anerkennung Palästinas als beobachtender Nicht-Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen. Das Ergebnis der Abstimmung der UNO-Vollversammlung am 29. November ist vor allem symbolisch und regelt nicht die Frage des friedlichen Zusammenlebens zwischen Israel und seinem neuen offiziellen Nachbarn. Genauso symbolisch ist aber auch die Tatsache, dass es der Europäischen Union nicht gelungen ist, sich in dieser Frage auf eine Position zu einigen.

Die Auszählung der Stimmen zeigt, dass sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten in zwei Blöcke gespalten haben: 14 Ländern stimmten dafür, 12 enthielten sich der Stimme. Nur die Tschechische Republik votierte so wie Israel, die USA und sechs weitere Staaten (von insgesamt 188) mit Nein.

Lluis Bassets unterstrich vor der Abstimmung bei der UNO, dass der Europäische Auswärtige Dienst, der 2010 gegründet wurde, eine leere Hülse geblieben ist. Die 27 Mitgliedsstaaten scheinen sich nicht nur darauf zu versteifen, diese Einrichtung, die den weltweiten Einfluss der EU fördern sollte, und dessen Hohe Vertreterin Catherine Ashton zu ignorieren, sondern versuchen nicht einmal, sich bei einer so emblematischen Angelegenheit wie der Anerkennung eines palästinensischen Staates auf eine gemeinsame Position zu einigen.

Symbolcharakter hat auch die Tatsache, dass diese Zwietracht eine Woche nach dem gescheiterten Gipfel über den EU-Haushalt auftritt, bei dem die einzelnen Staaten nur ihre eigenen Interessen verfochten haben und unfähig waren, sich auf gemeinsame Prioritäten für die kommenden sieben Jahre zu einigen.

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Es ist wohl kein Zufall, dass diese Ereignisse knapp aufeinander folgen. Sie scheinen vom Zeitgeist inspiriert zu sein. So erklärte Mark Rutte, der niederländische Ministerpräsident, heute in einem Gespräch mit vier europäischen Tagezeitungen, zu denen auch die Süddeutsche Zeitung gehört, seine Regierung wünsche „eine Debatte auf der Ebene der 27 Mitgliedsstaaten, um herauszufinden, ob Europe nicht zu stark in Bereichen engagiert ist, die auch auf nationaler Ebene behandelt werden könnten“. Das Subsidiaritätsprinzip verdient in der Tat Beachtung, weil es zur Funktionsfähigkeit der Union beiträgt. Aber zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise daran zu erinnern, erhöht nur die Verwirrung und die Zweifel, die von der Infragestellung der weiteren EU-Mitgliedschaft Großbritanniens entfacht wurden.

Diese politische Botschaft vermittelt das Bild eines Selbstbedienungs-Europas, in dem jeder auf Kosten des Gesamtprojekts nur das wählt, was ihm gerade passt.

Vor einigen Jahren sollte die nun eingemottete Europäische Verfassung eine wichtige Etappe im Aufbau der Europäischen Union krönen. Der Vertrag von Lissabon, der sie ersetzte, fiel den bei seiner Entstehung geschlossenen Kompromissen zum Opfer. Die Wirtschaftskrise erteilte ihm schließlich den Gnadenschuss.

In seinem Buch De passage naar Europa, Geschiedenis van een begin (2009, en: The Passage to Europe: A History of a Beginning.) beschreibt der niederländische Historiker und Philosoph Luuk van Middelaardas sich ständig ändernde Gleichgewicht zwischen einer externen Sphäre der traditionellen Gemeinschaft der im 19. Jahrhundert entstandenen Nationen, einer internen Sphäre der gemeinschaftlichen Institutionen und einer intermediären Sphäre der Staaten, die sich zusammenschließen und allmählich Entscheidungen treffen, die über die nationalen Interessen hinausgehen, ohne sie jedoch zu vernachlässigen. Die Geschichte der EU war bislang von der Umstellung von der externen Sphäre auf eine enge Zusammenarbeit der beiden anderen Sphären geprägt. Dieser historische Prozess scheint heute ins Stocken geraten zu sein.

Heute unterbreitet nur mehr die Europäische Kommission Projekte, die auf einer langfristigen Integration beruhen. Aber sie steht ganz allein da und ist unfähig, sich damit durchzusetzen.

Dabei kommt die europäische Geschichte gerade in einer Zeit zum Stillstand, in der die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das ist wohl kein Zufall, denn das Komitee für den Nobelpreis wollte die 27 Mitgliedsstaaten sicher vor den Folgen ihrer Zwistigkeiten warnen. Bei der Ankündigung dieser Auszeichnung schrieb Presseurop, dass Europa sich ihrer würdig erweisen müsse. Nun erfahren wir, dass sechs europäische Regierungs- und Staatschefs es vorziehen, nicht zur Preisverleihung am 10. Dezember zu erscheinen.

Aus dem Französischen von Claudia Reinhardt

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