Neue Grenzen

Nachdem die Verhandlungen monatelang auf Eis lagen, konnten sich die Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament nun doch auf neue Regelungen einigen. Denen nach soll die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen innerhalb des Freizügigkeitsraumes erleichtert werden. Aber, ist das ein Fortschritt?

Veröffentlicht am 10 Juni 2013 um 12:11

Das Europäische Parlament und der Europäische Rat haben sich am 29. Mai auf ein neues Schengen-Gesetzespaket einigen können. Ein Kompromiss ist eigentlich immer eine gute Sache. Nachdem Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat eine Einigung eineinhalb Jahre lang unmöglich gemacht und die Verhandlungen blockiert hatten, wurde dem neuen Paket zur Verwaltung des Schengen-Systems endlich grünes Licht erteilt.

Allerdings ist und bleibt die Frage, ob die neue Verwaltung des Schengen-Raumes tatsächlich ein Fortschritt oder nicht doch ein Rückschritt ist. Natürlich kommt es einerseits darauf an, von welchem Standpunkt aus man die Gelegenheit betrachtet, andererseits muss berücksichtigt werden, wie die europäischen Regierenden den vor Kurzem erzielten Kompromiss aufnehmen und umsetzen.

Aussetzung in Eigenregie

Vergegenwärtigen wir uns einmal kurz die historischen Fakten: 1985 unterzeichneten sieben Länder der Europäischen Gemeinschaft – die damalige EU – in der kleinen luxemburgischen Ortschaft Schengen ein Abkommen, mit dem die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft werden sollten. In die Tat umgesetzt wurde diese Vereinbarung aber erst zehn Jahre später. Seitdem sind immer mehr Staaten dem Abkommen beigetreten, darunter auch Länder, die nicht zur Union gehören, wie Norwegen, Island, die Schweiz oder Liechtenstein. Insgesamt zählt der Schengen-Raum derzeit 30 Mitglieder. 27 von ihnen haben das Abkommen vollständig umgesetzt, die anderen befinden sich im Übergangsprozess.

Bis vor wenigen Jahren schien alles recht gut zu funktionieren. Dann aber wurden die immer zahlreicheren Einwanderer von einem Teil der Ortsansässigen zunehmend als Störenfriede wahrgenommen. Demgegenüber konnten sich die Politiker natürlich nicht gleichgültig verhalten. Und als sich die Lage im Kontext der Wirtschaftskrise nur noch mehr zuspitzte, wurden neue Regeln im Schengen-Raum immer dringender erforderlich.

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Allerdings entschieden einige Mitgliedsstaaten in der Zwischenzeit, das Abkommen einseitig auszusetzen. So brachte die zunehmende Einwandererwelle aus Nordafrika im Frühjahr 2011 Frankreich und Italien beispielsweise so weit, Schengen vorübergehend auf Eis zu legen. Im gleichen Jahr schloss sich ihnen – aus wahlpolitischem Kalkül vor dem Urnengang im Herbst – auch Dänemark an. Allerdings verlor die Mitte-Rechts-Regierung die Wahlen trotz des Medienrummels, den die Aussetzung des [Schengener] Abkommens ausgelöst hatte. Gleichwohl verhängte die Europäische Kommission weder gegen Frankreich, noch Italien oder Dänemark Sanktionen.

Eine Art Kompromiss

Das neue Regelsystem im Schengen-Raum ist eine Art Kompromiss, auf den sich die [zwei unterschiedliche Standpunkte vertretenden Parteien] (1261951) geeinigt haben. Auf der einen Seite forderten die Regierenden (d. h. der Rat) mehr Freiheit für die Staaten, damit sie selbst entscheiden können, zu welchem Zeitpunkt eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen in ihren Ländern erforderlich ist. Auf der anderen Seite wollte das Parlament ein einseitiges Aussetzen des Abkommens an strenge Auflagen knüpfen, um das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit bestmöglichst zu schützen.

Letzen Endes konnten sich der Rat und das Parlament also auf einen Mittelweg einigen. Ihm zufolge können die Mitgliedsstaaten, die der Ansicht sind, dass eine massive Zuwanderungswelle eine Bedrohung für das eigene Land darstellt, an ihren Grenzen wieder Kontrollen für eine Dauer von maximal zwei Jahren einführen. Für Nicht-EU-Bürger werden die Formalitäten für die Einreise in den Schengen-Raum verschärft (auch für jene, die keiner Visumpflicht unterliegen). Die Reisenden müssen sich in Zukunft ähnlich wie für eine Einreise in die USA im Internet online registrieren. Über die ordnungsgemäße Umsetzung der Maßnahmen zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen wird die Kommission wachen und so jedem Missbrauch vorbeugen. Am 1. Januar 2014 sollen die neuen Regelungen in Kraft treten.

Die liberale rumänische EU-Abgeordnete Renate Weber [der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, kurz ALDE] hat die Verhandlungen zum Schengener Grenzcodex im Namen des Europäischen Parlamentes geführt. Ihrer Meinung nach führt das Abkommen endlich gemeinsame Regeln zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen ein, und lässt diese auch wirklich nur unter außergewöhnlichen Umständen zu.

Was sind außergewöhnliche Umstände?

Wer wird letzten Endes aber entscheiden, wann außergewöhnliche Umstände vorliegen? Die Regierungen – zumindest in erster Instanz. Und genau deshalb besteht nach wie vor die Gefahr, dass die Entscheidung nicht immer nur anhand technischer, sondern unter Umständen auch politischer Überlegungen gefällt wird. Zudem könnte der ein oder andere wahltaktische Grund dafür sorgen, dass die drohende Gefahr „übertrieben“ wird. Das zeigte beispielsweise die Petition gegen die „Massenimmigration von Rumänen“ in Großbritannien (das nicht einmal zum Schengen-Raum gehört), oder aber der „Angriff der Krähen“, auf dem die Opposition ihre Kampagne gegen den Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum aufbaute.

Im Frühjahr dieses Jahres beschwerte sich der Deutsche Städtetag bei der Bundesregierung darüber, dass Einwanderer, und insbesondere Immigranten aus Rumänien, das Sozialversicherungssystem schwer belasten und tiefe Haushaltslöcher in die Budgets der Gemeinden reißen. Handelt es sich dabei nun aber tatsächlich um außergewöhnliche Umstände?

Wie dem auch sei, Rumänien gehört wie Bulgarien und Italien zu den „kaum regierbaren“ Ländern, meint EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Eine Behauptung, die natürlich stark übertrieben ist (wir könnten auch einfach nur ein schlecht regiertes Land sein). Jedoch hat kein einziges Regierungsmitglied in Berlin es für nötig gehalten, [Oettingers] Aussage zu entkräften. Ein „kaum regierbares“ Land ist ja auch ein geeigneter Nährboden für regionale Instabilität, und löst dadurch natürlich auch einen Flüchtlingsstrom aus, nicht wahr?

All das ist selbstverständlich reine Spekulation. Aber diese Phantasievorstellung zeigt, dass der jüngste Kompromiss über ein neues Regelwerk im Schengen-Raum sich sowohl als Schritt nach vorn, als auch als Schritt zurück erweisen könnte – je nachdem, ob die Regierungen der Mitgliedsstaaten nach bestem Wissen und Gewissen handeln oder nicht.

Eintritt frei für Rumänien und Bulgarien?

Laut der Vereinbarung zählen Rumänien und Bulgarien nicht zu den Schengen-Beitrittskandidaten, weil sie die technischen Bedingungen bereits erfüllt haben. Außerdem nimmt der neue Überprüfungsmechanismus Kriterien wie Korruption und organisiertes Verbrechen gar nicht mehr genauer unter die Lupe. Dabei beriefen sich einige Ländern eben auf diese Eigenschaften, um den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum zu verhindern.

Infolgedessen könnte der neue Kompromiss sowohl Rumäniens als auch und Bulgariens Beitritt erleichtern. Und angesichts der Tatsache, dass es einen neuen Mechanismus geben wird, der es den Mitgliedsstaaten ermöglicht, Grenzkontrollen wieder einzuführen, könnte es sogar sein, dass die EU-Staaten den beiden Donauländern viel entspannter gegenübertreten.

Allerdings ist all das auch vom politischen Kalkül der Mitgliedsstaaten abhängig, die das neue Regelwerk unterzeichnet haben. Dass die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament also in Zukunft die entscheidende Rolle spielen werden, stimmt demzufolge nur teilweise, bzw. gar nicht...

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