„Europa”

Tief gespalten, aber dringend gebraucht!

Die Gesellschaft gegen die Eliten, der Norden gegen den Süden, Deutschland gegen Frankreich, Großbritannien gegen alle: trotz zahlreicher Diskrepanzen und der daraus resultierenden Schwächung der EU auf dem neuen Weltmarkt, muss man weiter an Europa glauben, fordert der Politikwissenschaftler Dominique Moïsi.

Veröffentlicht am 10 Dezember 2013 um 13:00
„Europa”

Europäer, öffnet die Augen! Ihr werdet 2050 nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, während es Anfang des 18. Jahrhunderts noch 20 Prozent waren. Alle zusammen seid ihr nur sehr schwach. Auf Ebene der einzelnen Nationen seid ihr winzig! Selbst Deutschland, der neue wirtschaftliche und demographische Riese der Union, entspricht nur einem Prozent der Menschheit. Morgen wird es noch weniger sein. Gleichzeitig ist die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents von 180 Millionen Einwohnern im Jahr 1950 auf heute mehr als eine Milliarde angestiegen. In 35 Jahren werden es sicher mehr als zwei Milliarden sein. Natürlich ist das Bevölkerungswachstum nicht allein entscheidend: der Einfluss Singapurs misst sich nicht an der Einwohnerzahl. Aber es ist ein wichtiger Faktor.

Heikle Lage im Nahen Osten und Asien

Die Europäer brauchen die Union mehr als je zuvor und nicht nur, weil sie im zahlenmäßigen Vergleich immer weiter zurückfallen, sondern weil die Welt um sie herum auch immer unsicherer wird. Amerika zieht sich zurück, ermüdet von seinen teuren und gewagten Militärabenteuern im Nahen Osten, aber sicher auch beruhigt, denn 2020 könnte das Land mit Hilfe der Schiefergas- und Ölvorkommen energetische Unabhängigkeit erlangen. Russland nähert sich zwar an, allerdings nicht an die Wertevorstellungen, sondern um seinen imperialistischen Ambitionen gerecht zu werden. Es wollte nie auf die Ukraine verzichten und übt extremen Druck auf Kiew aus. Der Kalte Krieg ist nicht zurück, Russland ist nicht die UDSSR, aber aus dem Osten kommen beunruhigende Neuigkeiten.

Der Nahe Osten befindet sich seit Beginn des Arabischen Frühlings in einem Spaltungsprozess. Die arabischen Revolutionen weisen Parallelen sowohl zur Französischen Revolution als auch zu den Religionskriegen auf, die Europa Mitte des 16. Jahrhunderts in Blut tränkten. Schiiten und Sunniten übernehmen die Rolle der Protestanten und Katholiken. Aber in Wahrheit fällt gerade vor unseren Augen das Kartenhaus der Sykes-Picot-Abkommen von 1916 [welche die Teilung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg festlegten] in sich zusammen und mit ihnen die Einheit von Ländern wie dem Irak, Syrien oder Libyen, auf denen das gesamte Gleichgewicht des Nahen Ostens ruht. Auch in Asien spitzt sich die Lage zu. Von Tokio über Seoul bis Peking fragen sich die asiatischen Eliten beunruhigt, ob 2013 für ihren Kontinent das 1913 von Europa (ein Jahr vor Kriegausbruch) sein wird. Keiner will einen bewaffneten Konflikt, aber niemand gibt sich Mühe, einen versehentlich ausgelösten Krieg im Chinesischen Meer zu verhindern.

„Vier Scheidungen und kein Todesfall”

[[Wie verhält sich die Union angesichts eines immer gefährlicheren internationalen Umfelds? Sie kapselt sich ab und überlässt das Feld den immer einflussreicheren Populisten]] in ihren eigenen Reihen. 1994 feierte in Großbritannien ein Film große Erfolge: Vier Hochzeiten und ein Todesfall mit Hauptdarsteller Hugh Grant. Um die heutige europäische Realität zu beschreiben, müsste man sicher von „Vier Scheidungen und kein Todesfall” sprechen. Denn es existiert quasi ein vierfaches Scheidungsverfahren zwischen den EU-Mitgliedern. Das erste und wichtigste findet zwischen der Gesellschaft und ihren nationalen oder „Brüsseler” Eliten statt. Der Konflikt begann 2007 und ging der Wirtschafts- und Finanzkrise voraus. Die negativen Volksabstimmungen von 2005 in Frankreich und den Niederlanden über eine EU-Verfassung sind der Beweis dafür. Die Krise hat die Kluft noch weiter vertieft, die sich zwischen dem geplatzten Traum eines europäischen Projekts (außer für die Nicht-Europäer oder Nicht-Mitgliedsländer wie die Ukraine) und den von der Politik und den Politikern desillusionierten Bürgern gebildet hat.

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Der zweite Scheidungsfall ist geographischer Natur und betrifft die Diskrepanz zwischen dem unter deutscher Führung erfolgreichen Nordeuropa und Südeuropa, das wie Griechenland scheitert, auch wenn glücklicherweise Athen bisher noch das einzige Beispiel ist. Zu dieser Nord-Süd-Spaltung kommt außerdem noch eine Ost-West-Dimension hinzu. Denn mit Ausnahme von Polen haben die Länder Ost- und Mitteleuropas, die zwischen 2004 und 2005 der Union beigetreten sind, sowohl wirtschaftliche als auch politische Schwierigkeiten.

Frankreich entfernt sich von Nordeuropa

Die dritte Scheidung ergibt sich aus der Situation zwischen den zwei Grundpfeilern der Union, Frankreich und Deutschland. [[Um es deutlich zu sagen, Paris spielt nicht mehr in der selben Liga wie Berlin]]. Sicher schafft es die deutsche Zurückhaltung auf internationaler Ebene, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den beiden Ländern wiederherzustellen. Aber es ist nur künstlich. Seit 1995 und dem Tod von François Mitterrand war kein Präsident der französischen Republik einem deutschen Kanzler ebenbürtig. Das ist wenig verwunderlich, denn Frankreich nähert sich gefährlich dem Süden Europas und seinen Problemen an und entfernt sich vom erfolgreichen Nordeuropa.

Der vierte Scheidungsfall zwischen Großbritannien und Europa erschwert den dritten zusätzlich. Paris kann sich für einen Kräfteausgleich mit Berlin nicht mehr auf London stützen, da sich Großbritannien immer weiter vom Kontinent entfernt und mit einem Referendum 2017 sogar ganz von Europa lösen könnte. Es wird aber keinen Todesfall geben, wenn Europa, das sehr lange über seinen finanziellen und unter seinen politischen, intellektuellen oder spirituellen Mitteln gelebt hat, seinen Scharfsinn und Mut angesichts einer Krise wiederfindet, die vor allem ethisch ist. Die Europäer haben keine andere Wahl als weiter an Europa und seine aussergewöhnliche Mischung von Einheit und Vielfalt zu glauben, denn sie brauchen es mehr als je zuvor.

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