Presseschau (Dis)Equality

Wie „beliebt” sind die Olympischen Spiele in Paris tatsächlich?

Die als „populär” bezeichneten Olympischen Spiele diesen Sommer in Paris sind einerseits ein riesiges Geschäft, andererseits aber auch mit viel sozialer Gewalt verbunden. Lesen Sie dazu unsere Presseschau.

Veröffentlicht am 18 April 2024 um 11:58

Laut einer am 25. März veröffentlichten Viavoice-Umfrage blicken nur 37 Prozent der Franzosen den Olympischen Spielen 2024 mit „viel” oder wenigstens „etwas Ungeduld” entgegen. Paris - und übrigens auch andere französische Städte, darunter Marseille - werden die Olympischen Spiele und Paralympics dieses Jahr vom 26. Juli bis 8. September ausrichten.

Warum so wenig Begeisterung?

Die Pariser Kandidatur wurde 2017 angenommen, nachdem die anderen Bewerber (Budapest, Boston, Rom) sich zurückgezogen hatten, auch aufgrund der geringen Unterstützung der Bevölkerung, die darüber per Referendum oder Volksbefragungen abgestimmt hatte. In der französischen Hauptstadt dagegen fand keine Konsultation statt, wie der Sportsoziologe Michel Koebel  in diesem Vortrag erörtert. Im Hinblick auf die Bewerbung Münchens für Olympia 2036 fragt sich Andreas Rüttenauer in der Tageszeitung, wie eigentlich die Zustimmung oder Ablehnung der Bevölkerung am besten ermittelt werden kann. Per Umfrage? Stichproben? Und anhand welcher Fragestellung? - ein zentrales Thema, wie er in seiner Analyse betont. 

Das Versprechen der französischen Regierung lautete, Paris 2024 zu „beliebten Olympischen und Paralympischen Spielen” zu machen. Aber wie?

Da war von erschwinglichen Spielen die Rede, da man wusste, dass die Sportanlagen bereits weitgehend vorhanden waren. Angélique Chrisafis erinnert im Guardian daran, dass die Stadt bereits über 95 Prozent der Anlagen verfügte und kein Stadion mehr bauen musste, wie es London 2012 getan hat - und dass Paris ohnehin schon eines der wichtigsten Tourismusziele der Welt ist. Außerdem wurde den Parisern versprochen, dass der Austragungsort der Spiele von der Veranstaltung profitieren würde.

Die Seine-Saint-Denis

Die meisten olympischen Einrichtungen befinden sich in der Seine-Saint-Denis, dem ärmsten Departement des französischen Festlandes (also ohne die Überseegebiete): 27,6 % der Bevölkerung (1,6 Millionen Menschen) leben unter der Armutsgrenze, wie aus dem letzten Bericht des Observatoriums für Ungleichheit hervorgeht.

Die Seine-Saint-Denis stellt gleich mehrere traurige Rekorde auf, schreibt Louise Couvelaire in Le Monde: Es gibt dort weniger Lehrer, Richter, Ärzte und Polizisten und das Departement mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt (42 % der Bevölkerung sind unter 30) hat zudem die höchste Kriminalitätsrate und die geringste Anzahl an Hochschulabsolventen. Paradoxerweise ist es aber auch das wirtschaftlich dynamischste Departement, denn einige der größten französischen Unternehmen haben sich hier angesiedelt (Veolia, Vinci, BNP Paribas, SFR, der Flughafen Charles de Gaulle... ), auch wenn die Bevölkerung nur wenig von diesem Reichtum profitiert. So leben beispielsweise 70 % der im Departement tätigen Führungskräfte woanders. 


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Angélique Chrisafis weist im Guardian darauf hin, dass zwei der extra für die Olympiade gebauten Großprojekte, das Olympische Dorf und das Aquatic Zentrum, auch nach den Spielen von dem Departement genutzt werden können: So soll ein Teil des Dorfes in Sozialwohnungen umgewandelt und ein anderer Teil an Privatpersonen verkauft werden. Das Problem dabei ist jedoch der viel zu hohe Quadratmeterpreis, der mit 7.000 Euro deutlich über dem Durchschnittspreis von 4.000 Euro liegt, während der Pariser Durchschnitt bei 10.000 Euro liegt. Die Schwimmbäder werden dem Departement überlassen, das wenig davon hat und in dem die Hälfte der Kinder im Alter von etwa 10 Jahren nicht schwimmen kann.

Mehrere Initiativen haben sich für den Erhalt der Grünflächen von Seine-Saint-Denis eingesetzt, die ganz oder teilweise zerstört wurden, um Platz für die olympischen Einrichtungen zu schaffen, darunter die Arbeitergärten von Aubervilliers. Die Journalistin und Autorin des Buches Paris 2024 , une ville face à la violence olympique (Divergences, 2024), Jade Lindgaard, berichtet in der Fernsehsendung Arrêt sur images über diese Initiativen.  

Eintrittskarten, Unterkunft, Transport – alles eine Frage des Geldes

Das aussagekräftigste Beispiel für die Preise sind die Eintrittskarten für das Leichtathletik-Finale im Stade de France: 85 € kosten die billigsten Tickets, 195 € muss man für die mittleren Plätze zahlen und der Rest bewegt sich zwischen 385 und 690 Euro, berichtet Mathias Thépot in Mediapart: „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat man mit den billigsten Karten ausschließlich Zugang zu den weniger interessanten Qualifikationswettbewerben. Außerdem sind die Plätze oft schlecht gelegen und die Veranstaltungen finden in Stadien statt, die weit weg von Paris sind.”

Und wie steht es um die Kosten für die Unterkunft? Wie Aurélie Lebelle in Le Parisien berichtet, hat sich der Preis für ein Doppelzimmer mit Frühstück im Durchschnitt vervierfacht. Auf Airbnb, so Sud-Ouest, liegt der Durchschnittspreis für eine Nacht bei 619 Euro.

Die öffentlichen Verkehrsmittel in Paris sollen für Karteninhaber kostenlos sein, so wie es 2012 auch in London der Fall war. Das jedenfalls hatte der Präsident des Organisationskomitees der Spiele, Tony Estanguet, 2021 angekündigt. Für alle anderen jedoch wird der Preis für die Metro - und Bustickets zwischen dem 20. Juli und dem 8. September von 2,15 € auf 4 € steigen, wie Damien Dole in Libération berichtet. Offiziell, um die Kosten für einen Anstieg des Verkehrsaufkommens um 15 Prozent zu decken.

Aber werden Sie sagen, das sind eben die Regeln des Kapitalismus…

'Soziale Säuberung'

Wie Michael McDougall in der Washington Post bereits 2021 feststellte, sind die Olympischen Spiele eine Katastrophe für die Menschen, die in den Austragungsstätten leben, weil Umsiedlung der Bevölkerung und Gentrifizierung unweigerlich damit verbunden sind. 

In Paris prangern 80 Verbände und NGOs, die sich im Kollektiv "Le Revers de la médaille" (Die Kehrseite der Medaille) zusammengeschlossen haben, die Vertreibung von „unerwünschten” Bevölkerungsgruppen an. Dazu gehören Migranten, Obdachlose und Sexarbeiter: „Die Olympischen Spiele kommen und gehen. Die Folge dieser sportlichen Großereignisse bleibt jedoch überall auf der Welt die gleiche, nämlich systematische soziale Säuberung”, kritisiert L'Humanité.

Auf Mediapart erklärt Faïza Zerouala: "Das Schaeffer-Kollektiv hat berechnet, dass mehr als 4.000 Menschen aus afrikanischen Ländern aus der Seine-Saint-Denis vertrieben wurden, Zahlen, die besetzte Häuser und Foyers von Wanderarbeitern betreffen.” Libération berichtet über die Klage des Bürgermeisters von Orléans, der von „500 Obdachlosen” spricht, die im letzten Jahr aus Paris vertrieben wurden.

Dazu kommen die etwa 2.000 Studenten, die aufgefordert wurden, ihre Wohnungen für die Dauer der Spiele zu verlassen, wozu ebenfalls bereits eine Untersuchung eingeleitet wurde.

Und dann sind da noch die Bewohner der Viertel, die zerstört wurden, um Platz für das Olympische Dorf auf der Île Saint-Denis zu schaffen. Die etwa 300 Familien wurden in andere Orte umgesiedelt, die jedoch oft zu weit von ihren früheren Wohn- oder Arbeitsorten entfernt sind. Reuters berichtet außerdem über die Räumung eines von Roma bewohnten Gebäudes auf der Île Saint-Denis.

Jules Boykoff, Professor für Politikwissenschaft an der Pacific University (Oregon, USA) und Autor des Buches What Are the Olympics For („Wofür sind Olympische Spiele gut?”, Bristol University Press, 2024), erklärt gegenüber Mediapart: „Die Olympischen Spiele sind eine Maschine, die Ungleichheiten verstärkt. [...] Das ist ein ganz klarer Trend [...] 1988 wurden für die Spiele in Seoul mehr als 700.000 Menschen umgesiedelt. Dasselbe geschah 2008 in Peking, wo mehr als 1 Million Menschen vertrieben wurden.”

Es gibt viele Gruppen, Kollektive und Initiativen, die ihren Unmut darüber äußern (Extinction Rebellion, Youth for Planet, Saccage 2024.....), aber ihre Stimmen werden in den Medien natürlich nicht gehört, wie Sylvia Zappi in Le Monde erklärt.

Und die Kosten für die Spiele?

Das ursprüngliche Budget von 6,8 Milliarden Euro ist auf mehr als 9 Milliarden Euro gestiegen, nach Angaben der Beratungsfirma Asterès sogar auf über 11 Milliarden. Problematisch ist auch die Vergütung von Tony Estanguet, dem Präsidenten des Olympia-Planungsausschusses: 270.000 Euro pro Jahr. Eine Summe, gegen die die Finanzstaatsanwaltschaft bereits eine Untersuchung eingeleitet hat. Obwohl es sich dabei „im Vergleich zu früheren Ausgaben nur um geringe Kosten handelt”, wie uns Wirtschaftsexperte Sylvain Bersinger in La Tribune beruhigt

Ein großer Teil des Budgets wird von privaten Sponsoren getragen. Dazu gehören EDF, Orange, Accor, Carrefour, BPCE, Sanofi und LVMH. Der Luxuskonzern von Bernard Arnault, „dem reichsten Mann der Welt”, hat 150 Millionen Euro beigesteuert.

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