Interview DIE CITIZENS TAKE OVER EUROPE INITIATIVE

„Wir wollen ein Europa, das sich kümmert und für das gesorgt wird“

Am 9. Mai, dem Europatag, hält das Bündnis „Citizens Take Over Europe“ seine erste Versammlung ab, Bürgergespräche über die Zukunft Europas. Die Versammlung ist notwendig, weil die Zivilgesellschaft nicht in die von der Europäischen Union geförderte Konferenz zur Zukunft Europas einbezogen wurde, erklären die Vertreter der Initiative, Marta Cillero, Michele Fiorillo und Martin Pairet.

Veröffentlicht am 13 Mai 2020 um 10:56
Ein Europa für Alle demonstration. Berlin, May 2019. | ©Mirko Lux

Voxeurop: Welche Ambitionen hat die Bürgerinitiative “Citizens Take Over Europe” hinsichtlich der Konferenz zur Zukunft Europas? Warum haben Sie diese Initiative ins Leben gerufen? Hätte die Konferenz zur Zukunft Europas nicht genügt?

Michele Fiorillo: Die Covid-19-Krise hat die tragische globale Pandemie in eine neue systemische Krise der Europäischen Union transformiert. Die Konferenz zur Zukunft Europas, die am 9. Mai in Dubrovnik eröffnet werden sollte, musste auf ein noch unbekanntes Datum verschoben werden. Es gab jedenfalls keine institutionelle Vereinbarung zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Europäischen Rat über den Umfang, die Methodik oder die Ziele dieser Konferenz. Die Vorschläge dieser Institutionen gaben bereits vielen Organisationen der Zivilgesellschaft dazu Anlass, die Struktur der Konferenz und ihre Methodik, die der Zivilgesellschaft nur eine äußerst marginale Rolle zuweisen, zu kritisieren. Keine der anregenden partizipativen und von den Bürgern gestalteten Methoden wurden in Betracht gezogen, wie sie zum Beispiel in Irland oder Belgien in jüngster Zeit mit Erfolg praktiziert wurden.

Mit dem Bündnis [Citizens Take Over Europe] (https://citizenstakeover.eu/) wollen wir zeigen, dass wir bereit sind, die Führung zu übernehmen und über unsere Zukunft mitzubestimmen, indem wir die Bürgerinnen und Bürger, Einwohnerinnen und Einwohner in den Mittelpunkt der Debatte über die Zukunft Europas stellen. Und nicht nur das: Wir glauben, dass es für die Menschen in Europa entscheidend ist, sich über die Grenzen hinweg zu organisieren, um das Europa voranzutreiben, das wir wollen: Ein Europa, das sich kümmert und für das gesorgt wird.

Ist dies der Beginn eines langfristigen Prozesses, der von der Zivilgesellschaft geführt wird? Könnten Sie ihn beschreiben?

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Michele Fiorillo: Am 9. Mai findet der erste Schritt in einen grenzüberschreitenden öffentlichen Raum statt. Eine Bürgerkonferenz zur Zukunft Europas in der Form einer europäischen Bürgerversammlung könnte ein wirkungsvolles Instrument sein, um diese Mobilisierung der Bürger zu organisieren. Erfahrungen wie die irische Bürgerversammlung oder G1000 haben gezeigt, wie Bürgerinnen und Bürger sich gemeinsam über das Allgemeinwohl beraten können. Am 9. Mai werden wir unsere von unten initiierte “Schuman-Erklärung» publizieren und damit den Prozess für eine selbstorganisierte europäische Bürgerkonferenz einleiten, auf der die Menschen über unsere Gegenwart und Zukunft mitbestimmen werden. Vorbereitung und Durchführung planen wir für die nächsten beiden Jahre. Wir müssen sicherstellen, dass die Bürger und die Beteiligung der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt aller neuen Initiativen über die Zukunft Europas stehen.

In einer Zeit, in der die Top-down-Governance die Idee der europäischen Solidarität bedroht und das Risiko einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaften birgt, müssen wir eine grundlegende, von unten nach oben wirkende Dynamik ins Spiel bringen, um eine neue Vorstellung von unserer Beziehung zu Europa zu gewinnen . Dieser Prozess kann auch zur Geburt einer zivilgesellschaftlichen verfassungsgebenden Macht führen, die in der Lage wäre, einen echten europäischen Demos zu schaffen – oder sogar eine europäische Nation – und letztendlich eine demokratische EU-Verfassung. Um all das zu erreichen, brauchen wir einen grenzüberschreitenden „Ballhausschwur“ der europäischen Bürger und Organisationen – vielleicht im Bund mit dem Europäischen Parlament -, die bereit sind, sich diesem ehrgeizigen Experiment anzuschließen. Der Moment dazu ist gekommen.

Wie sehen Sie die wachsende Rolle zivilgesellschaftlicher Gruppen bei der Neugestaltung des gegenwärtig fragilen europäischen Projekts? Was ist ihr Einfluss?

Marta Cillero: Das Bündnis “Citizens Take Over Europe” und Bürger in ganz Europa haben in der Finanz-, Migrations- und Gesundheitskrise vermehrt Petitionen, offene Briefe und Projekte initiiert. Zum ersten Mal hat unser Bündnis zivilgesellschaftliche Organisationen aus ganz Europa in einer noch nie da gewesenen Weise zusammengebracht, um die europäischen Institutionen mit unserem eigenen Plan zur Erneuerung der Demokratie herauszufordern. Unsere Rolle als grenzüberschreitende Zivilgesellschaft besteht darin, unseren eigenen Prozess für die Zukunft Europas in Gang zu setzen und dabei oft ungehörten und marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen, die von den Institutionen und Regierungen nicht länger ignoriert werden können.

Wir brauchen unsere eigene europäische Bürgerkonferenz: eine grenzübergreifende Versammlung, die in der Lage ist, die Phantasie und den Ehrgeiz aufzubringen, die unseren führenden Politiker so schmerzhaft fehlen. Wir glauben, dass die Millionen europäischer Bürger und Einwohner, die derzeit direkt von der Covid-19-Pandemie betroffen sind, die direkten Auswirkungen der mangelnden Solidarität zwischen den europäischen Mitgliedstaaten erkennen. Die organisierte Zivilgesellschaft hat die Verantwortung, den politischen Raum zu öffnen, um auf die unmittelbaren Anliegen der Menschen in Europa einzugehen. Wir glauben, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um einen angemessenen Zugang zu den Institutionen einzufordern, damit sichergestellt werden kann, dass die Menschen stets im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung stehen.

Arbeitet die Zivigesellschaft parallel zu den politischen Parteien oder auch manchmal Hand in Hand? Was sind die Verbindungen mit der Welt der Politik?

Marta Cillero: Zivilgesellschaftliche Gruppen müssen außerhalb der politischen Parteien arbeiten, um ihre Rolle als Gegenmacht zu den traditionellen Regierungsstrukturen sowie ihre Fähigkeit zu bewahren, die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber den Bedürfnissen der Bürger einzufordern. Unsere Aufgabe besteht auch darin, den Bürgern Alternativen vorzuschlagen, wie wir uns besser regieren können, und Bedingungen für Entscheidungsfindungen zu schaffen, die die Bürger und Einwohner Europas in den Mittelpunkt stellen. Kontakte und Verbündete in der politischen Welt sind unerlässlich, um unsere Ziele zu erreichen: Wir müssen mit den traditionellen Machtstrukturen arbeiten, um die Grundlage für eine echte partizipative Demokratie in Europa zu schaffen. Oftmals laufen die Bemühungen der Zivilgesellschaft um Veränderungen jedoch Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Sie werden von vielen politischen Parteien und Regierungen benutzt, um ihr Handeln zu legitimieren. In Frankreich zum Beispiel, wo bis April 2020 eine echt partizipative Bürgerkonferenz zum Klimawandel (Convention Citoyenne pour le Climat) stattfand, ist es noch offen, ob die von den Bürgern formulierten Strategien tatsächlich in die Realität umgesetzt werden. Als zivilgesellschaftliche Akteure müssen wir uns dieser Spannung immer bewusst sein, wenn wir mit der traditionellen Politik zusammenarbeiten.

Die Zivilgesellschaft ist im politischen System der Europäischen Union schwach verankert und leicht zu ignorieren: Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese beispiellose Krise nutzen, um eine Einheit zwischen den zahlreichen verstreuten zivilgesellschaftlichen Akteuren in ganz Europa zu schaffen und uns auf eine Art und Weise organisieren, die nicht umgangen werden kann.

Wie wirksam sind ihre Aktionen und Vorschläge, um die Werte der Zusammenarbeit, Gleichheit und Solidarität wiederzubeleben, die im Mittelpunkt des ursprünglichen europäischen Projekts standen?

Martin Pairet: In den Krisen der letzten Jahrzehnte hat es die europäische Politik versäumt, Solidarität mit den am meisten Marginalisierten, Roma, Migranten und anderen europäischen Bürgern, zu organisieren. Allzu oft hören wir als zivilgesellschaftliche Akteure das Argument, dass dieses Versagen auf die mangelnde Kompetenz der europäischen Institutionen in bestimmten Bereichen wie Migration oder Gesundheit zurückzuführen sei. Doch oft gibt es alternative Lösungen, die gefördert werden könnten. Der Ballabtausch zwischen nationalen Regierungen und europäischen Institutionen sollte nicht dazu führen, dass man sich der Verantwortung entzieht. Millionen von Menschen haben sich grenzübergreifend organisiert, um die marginalisierten Menschen in unseren Gesellschaften zu unterstützen, und haben vor Ort alternative Governance-Plattformen entwickelt, welche die Weise, wie wir leben und Entscheidungen über unser Leben treffen, neu erfinden. Ihre Aktionen haben bewiesen, dass Alternativen möglich sind und bereits von den Bürgern selbst umgesetzt werden.

Wie sind diese Werte verloren gegangen und warum hat die Top-down-Governance die Bedürfnisse der Europäer vernachlässigt? Könnte es der Zivilgesellschaft gelingen, die in einer wachsenden Zahl von Mitgliedstaaten geschwächte Demokratie zu stärken?

Michele Fiorillo: Das europäische Projekt steckt seit mehr als einem Jahrzehnt fest. Widersprüchliche Argumente im Namen der „Staatsraison“ blockieren den EU-Rat, und so kann die Union nicht das leisten, was sie mit einer demokratischeren, grenzübergreifenden Regierungsführung, die das gesamte europäische Volk als solches im Blick hat, leisten könnte. Wir haben einen gemeinsamen Markt, aber keine gemeinsame Sozialpolitik für den gesamten Kontinent. Das untergräbt die Legitimität der EU und fördert die national-populistischen Kräfte. Ohne den Aufbau einer zivilgesellschaftlichen grenzübergreifenden Gegenmacht, die in der Lage ist, Druck auf den Europäischen Rat und die anderen Institutionen auszuüben, wird Europa keine weiteren entscheidenden Schritte in die erforderliche Richtung unternehmen.

Kein Staat wird sich vor der Katastrophe der Covid-19-Krise retten, wenn er nicht mit den anderen auf dem Weg zu einer stärkeren Union kooperiert. Die Europäische Union wird nicht in der Lage sein, ihrer globalen Verpflichtung zur Solidarität mit anderen Ländern gerecht zu werden, wenn sie geteilt und mit einer Beggar-thy-neighbour-Politik handelt. Wir glauben, dass sich die europäischen Bürger dessen jeden Tag bewusster werden. Und wir sind sicher, dass Europa sich verändern und demokratischer, freier und gleicher werden wird, auch durch den Bottom-up-Prozess, zu dem wir alle einladen sich zusammenzuschließen, um gemeinsam mit uns einen dauerhaften grenzüberschreitenden europäischen öffentlichen Raum für gemeinsame Deliberation und Partizipation zu gestalten.

Die Initiative “Citizens Take Over Europe” (Bürger übernehmen Europa) ist eine gemeinsame Anstrengung einer sich ständig erweiternden Gruppe von Organisationen der Zivilgesellschaft, die derzeit aus Alliance4Europe, Ein anderes Europa ist möglich, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, CIVICO Europa, Democracy International, European Alternatives, European Civic Forum, European Democracy Lab, European Women Alliance, EUmans, Mehr Demokratie, New Europeans, The ECI Campaign, Eurotopia, The Good Lobby, und WeMove Europe.

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