Nigel Farage, ein britischer Politiker mit einer Begabung für blumenreiche Empörung, entrüstete sich vor kurzem darüber, dass über tausend EU-Beamte mehr verdienen als der britische Premierminister. Die EU sei eine "Abzocke", wetterte Farage, der für die United Kingdom Indepence Party (UKIP) im EU-Parlament sitzt. Es sei kein Wunder, dass die Brüsseler Bürokraten "mehr Europa" forderten, erklärte er. Was sie wirklich wollten, sei "mehr Geld" für sich selbst.
Die Wahrheit ist sogar noch schlimmer, zumindest für die Wähler der UKIP: Brüssels Funktionäre fordern "mehr Europa", weil sie tatsächlich mehr Europa wollen. Ja, manche sind überbezahlt, insbesondere die alten Hasen, die vor der Personalreform von 2004 eingestellt wurden. Die hoch gebildeten und oft ein bisschen gelangweilten Eurokraten mögen verwöhnt klingen: Sie jammern über ihre Situation, obwohl sie einige der sichersten Jobs der Welt genießen. Und doch ist der durchschnittliche Eurokrat nicht in erster Linie wegen des Geldes dabei.
Brüssel ähnelt dem Vatikan
Das europäische Viertel in Brüssel ist ein seltsames Fleckchen. Es ähnelt weniger Sodom und Gomorrha als dem Vatikan. Europa ist für seine Bürokraten ein auf dem Glauben beruhendes Projekt, oder zumindest war es das, als sie die EU-Aufnahmeprüfung ablegten. Sogar wenn die Eurokraten mit zunehmendem Alter immer zynischer werden, wenn sie lernen, dass Karriereaufstieg weniger mit Leistung als mit Politik zu tun hat, bewahren die meisten einen Funken Glauben. Einfach gesagt: Sie glauben, der Nationalismus sei das größte aller Übel. Es gibt schlimmere Glaubensbekenntnisse. Der Nationalismus war in der Tat ein Fluch für Europa.
Brüsseler Beamte sind oft aufmerksam, klug und angenehme Gesellschafter. Sie beherrschen mehrere Sprachen. Viele haben Ehepartner aus anderen Ländern (und geschiedene Partner aus wieder anderen Ländern, wenn wir schon dabei sind). Ihre Kinder wachsen mehrsprachig und multikulturell auf und betrachten sich als Europäer. Auffallend oft stammen sie aus Regionen mit starkem Unabhängigkeitsbewusstsein, wie Katalonien oder Wales. Wenig geneigt, ihre Karriere in einer verhassten Landeshauptstadt wie Madrid oder London zu beginnen, hielten sie sich statt dessen an den Traum eines vereinten Europas.
Eurokraten als Priester und Beichtväter
Wie Priester und Beichtväter sitzen die Eurokraten an der Quelle und sehen die schmutzigen Abkommen, die im Namen der nationalen Interessen abgeschlossen werden. Beim jährlichen Fischereirat beobachten sie, wie die Minister übermäßige Fangquoten für "ihre" Fischer anstreben und dabei wertvolle Fischarten vom Aussterben bedrohen. Sie sehen zu, wie angeblich pro-europäische Regierungen Lobbying betreiben, damit die neuen Gesetze "ihre" Bauern oder Automobilarbeiter begünstigen. All das stärkt ihren Glauben an Europa als höheres Ideal.
Und doch birgt ihr Credo, der Antinationalismus, ebenfalls Risiken. Im besten Fall haben die EU-Bürokraten naive Ansicht bezüglich dessen, wie viel Integration gewöhnliche Wähler ertragen können. Schlimmstenfalls klingen sie demokratiefeindlich. Wie jede Priesterkaste legen die Eurokraten auch eine Spur Autoritarismus und Obskurantismus an den Tag. Als die Franzosen und die Niederländer 2005 gegen die EU-Verfassung stimmten, murrten die Beamten in Brüssel, es sei Unsinn, die komplexe Juristensprache eines EU-Vertrags vor das einfache Volk zu bringen. Die Mutigsten unter ihnen argumentierten, die EU sei schon immer ein elitistisches Projekt gewesen, und zwar aus gutem Grund. Hätte man die deutschen Wähler gefragt, sagten sie, hätten diese schließlich ihre D-Mark auch nie für den Euro aufgegeben. Und die französischen Wähler hätten keine EU-Erweiterung akzeptiert.
Die paneuropäische Demokratie hat ein B-Team hervorgebracht
Die Hardliner unter den Euroskeptikern beschuldigen die europäischen Beamten, eine Diktatur zu planen. Das ist billige Demagogie. Die EU ist ein Klub der Demokratien, wenn auch ein Klub mit ungewählten Schiedsrichtern. In der "Brussels Bubble" (Brüssel-Blase) – einer lauschigen kleinen Welt mit Beamten, EU-finanzierten Think-Tanks und einem großen Teil des Pressekorps – sind nicht lauter Demokratiehasser. Das Problem ist, dass sie lauter Leute enthält, die nationale Demokratie mit Selbstsucht und Populismus gleichsetzen.
Eine Lösung für dieses Problem wird immer wieder vorgeschlagen: eine paneuropäische Demokratie, die auf grenzüberschreitenden Parteien sowie auf der großen neuen Macht aufbaut, welche der Vertrag von Lissabon dem Europäischen Parlament übertragen hat. Ein derartiger Enthusiasmus erfordert ein anderes Glaubensbekenntnis. Das Europäische Parlament ist die große Enttäuschung des europäischen Projekts. Es ist die Rache des B-Teams: eine Versammlung, angeführt von mittelmäßigen Selbstdarstellern, die jeden wachen Moment darauf verwenden, auf Kosten der nationalen Regierungen neue Macht zu ergattern.
EU-Kritiker sind nicht zwingend Nationalisten
Das Parlament ist gewählt, aber nicht wirklich rechenschaftspflichtig. Seine Mitglieder können jedes Gesetz niederstimmen, ohne damit den Sturz einer Regierung oder eine Blitzabstimmung zu riskieren: Das ist Macht ohne Konsequenzen. Gewöhnliche Wähler haben keine Ahnung, wer sie im Parlament vertritt oder ob dort die Rechte oder die Linke dominiert. Eigentlich liegt Europas Vielfalt darin, dass die Bezeichnungen "links" und "rechts", die von den großen Blöcken im Parlament verwendet werden, herzlich wenig bedeuten: Beim Freihandel zum Beispiel ist die schwedischen Linke vorurteilsfreier als die französischen Konservativen. Die Geschäfte erfolgen durch ein abgekartetes Spiel unter Parteibaronen, nicht durch den offenen Zusammenstoß von Ideen. Dadurch ist es dem Parlament gründlich misslungen, die Vorstellungskraft der Öffentlichkeit zu mobilisieren.
Insider in Brüssel sind überzeugt davon, dass die EU-Kritiker Nationalisten sind. Sie täuschen sich. Wenn die Demokratie in der echten Welt weit über den Nationalstaat hinausschießt, dann stolpert sie. (pl-m)
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