Presseschau (Un)Gleichheit

Rassismus und Strafverfolgung: Europas Polizei ist alles andere als neutral

Ob aus historischen oder politischen Gründen: Europa hat ein Problem mit Rassismus und Strafverfolgung. Von Italien über Griechenland bis in Frankreichs Vorstädte ist die Geschichte fast immer die gleiche.

Veröffentlicht am 7 Januar 2025

Am 24. November 2024 starb Ramy Elgaml in Mailand bei einem Unfall. Vorausgegangen war diesem eine acht Kilometer lange Verfolgungsjagd zwischen einem Auto der Carabinieri und dem Motorroller, auf dem er mit seinem Freund Fares Bouzidi unterwegs war. Elgaml wollte nicht an einem Kontrollpunkt anhalten. Er war 19 Jahre alt. Er starb in Corvetto, seinem Viertel, “wo heute eine Gedenkstätte steht mit Fotos und Blumen und einem Plakat, auf dem 'Wahrheit für Ramy' geschrieben ist“, berichtet Martina Micciché in Valigia Blu

Auf der Website der Agenzia S.I.R. (Religiöser Informationsdienst) zeichnet Lorenzo Garbarino ein Bild von Corvetto, das vielen anderen Vorstädten in Europa gleicht: Urbanismus der Arbeiterklasse, Ausgrenzung, Armut, Kriminalität: „ Sanierungsbemühungen gibt es seit langem keine mehr, materielle und kulturelle Armut konzentrieren sich hier und haben zur Entwurzelung des Ortes und zu einer langsamen, aber stetigen Verschlechterung der Lebensqualität geführt“, schreibt er. 

Noch in derselben Nacht, so Micciché weiter, „begann der erste Protest gegen die Gewalt der Carabinieri mit brennenden Mülltonnen. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Es folgten weitere, die Schlagzeilen machten. In den Medien wurde das Bild eines brennenden Corvetto gezeigt.“

Die Szene erinnert an andere, die wir bereits kennen: wütende Menschen in Vorstädten, von der Politik seit langem vergessen. Sie erinnert auch an andere von Polizisten verursachte Todesunfälle in Europa. 

In Frankreich ist der jüngste Fall der von Nahel Merzouk (17), der am 27. Juni 2023 von einem Polizisten getötet wurde. Der Beamte hatte behauptet, das Auto des jungen Mannes habe an einem Kontrollpunkt nicht angehalten und sein Fahrzeug gerammt, woraufhin er in Notwehr das Feuer eröffnete. Seine Version wurde zunächst von den Medien verbreitet. 

Die dagegensprechenden Videobeweise sind in diesem Fall jedoch zahlreich und zeigen, dass es Mord war: „Merzouk ist ein weiterer rassifizierter Jugendlicher, der dem systemischen Rassismus der Polizei zum Opfer gefallen ist. Für Dutzende von Arbeitervierteln, die von der Politik vernachlässigt und ausgegrenzt werden und deren Jugendliche rebellieren, war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, schrieb Tom Demars-Granja vergangenen Oktober, mehr als ein Jahr nach den Ereignissen, in l'Humanité

Racial Profiling, ein bekanntes Problem  

„Die Proteste [in Corvetto] offenbaren ein viel tiefgreifenderes Problem als ein banaler Verstoß gegen die Verkehrsordnung. Angefangen beim Racial Profiling in Italien“, so Micciché weiter. 

L'Humanité (das ehemalige Organ der Kommunistischen Partei Frankreichs, heute unabhängig, aber der Partei und der Linken sehr nahestehend) erinnert daran, dass „die Vereinten Nationen am 30. Juni 2023 den systemischen Rassismus und die ständigen diskriminierenden Praktiken des französischen Staates angeprangert haben. Frankreichs Regierung entgegnete am 8. Juli 2023 jedoch darauf, dass „jeder Vorwurf des Rassismus oder der systematischen Diskriminierung durch die Polizei in Frankreich unbegründet ist.“ 

nahel ramy bologna 2024
Gedenkmarsch für Nahel und Ramy. Bologna Dezember 2024, Italien. (Foto: fb)

Merzouk wohnte in der „cité“ Pablo-Picasso in Nanterre, in der laut Statistiken von 2019 fast die Hälfte der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Als junger Nordafrikaner, Nahostler oder Afrikaner ist man in Frankreich einem 20-mal höheren Risiko ausgesetzt, von der Polizei kontrolliert zu werden (Daten von 2017).

Das unabhängige Medium Basta! gibt einen Überblick über die Todesfälle bei Polizeieinsätzen in Frankreich seit 1977: „Dabei erkennt man ein klares Opferprofil: ein Mann unter 27 Jahren mit einem afrikanischen oder nordafrikanischen Namen, der in einem Arbeiterviertel am Rande einer Stadt wie Paris, Lyon oder Marseille lebt.“

Und anderswo in Europa?

Es geht hier nicht darum, eine Liste zu erstellen, sondern vielmehr ein strukturelles Problem aufzuzeigen.

So starb vergangenen September in Griechenland Muhammad Kamran Ashiq, ein 37-jähriger pakistanischer Migrant in Polizeigewahrsam. An seinem Körper wurden Spuren von Gewalt gefunden. 

Wie Human Right Watch berichtet, schrieb das Antifolterkomitee des Europarats nach einem Besuch in Griechenland im Juli, nur wenige Monate zuvor: „Wir haben erneut mehrere glaubwürdige und übereinstimmende Vorwürfe der vorsätzlichen körperlichen Misshandlung von Ausländern erhalten, die von Polizeibeamten auf den Athener Polizeistationen Omonia und Kolonos festgehalten wurden.”

Die britische Vereinigung Inquest veröffentlichte einen Bericht, demnach die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schwarzer in Haft stirbt, siebenmal höher ist als bei der übrigen Bevölkerung des Vereinigten Königreichs.

Eine Studie von Civio, die im Rahmen des Europäischen Netzwerks für Datenjournalismus durchgeführt wurde, an der auch Voxeurop beteiligt war, zeigt, dass zwischen 2020 und 2022 488 Menschen in 13 EU-Ländern in Gewahrsam oder infolge von Polizeieinsätzen gestorben sind und dass es sich bei den meisten Opfern um Migranten und Menschen mit psychischen Störungen handelt. 

Auch auf Valigia Blu schreibt Leonardo Bianchi:

„Am 27. September 2024 veröffentlichte der Internationale Mechanismus unabhängiger Experten zur Förderung von Rassengerechtigkeit und -gleichheit in der Strafverfolgung nach einem Besuch in Italien vom 2. bis 10. Mai 2024 einen Bericht. Darin heißt es, dass der Zusammenhang zwischen kriminalisierender Drogenpolitik und Racial Profiling ,erhebliche Menschenrechtsbedenken aufwirft und Minderheiten sowie andere gefährdete Gruppen unverhältnismäßig stark betrifft.‘ Akua Kuenyehia, der Vorsitzende des Expertengremiums, erklärte außerdem, dass ,rassistische Vorurteile, Stereotypisierung und Profilerstellung unbegründete und ungerechte Assoziationen zwischen Farbigsein, Kriminalität und Straffälligkeit schaffen.‘  Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangte auch ein anderer Bericht, der am 22. Oktober 2024 von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) erstellt und veröffentlicht wurde, die vom Europarat eingesetzt wurde. Dabei handelt es sich um eine unabhängige Menschenrechtsorganisation, die nicht der EU angehört.“

Am 9. September veröffentlichte die deutsche Plattform Mediendienst Integration, die sich mit Zuwanderung beschäftigt, die Ergebnisse einer Studie, die von Polizeibeamten in Niedersachsen während Routineeinsätzen durchgeführt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Studien über polizeilichen Rassismus in Deutschland, die sich auf die Einstellungen oder das individuelle Verhalten einzelner Beamter konzentrieren, stellt diese Studie die strukturelle Praxis in den Mittelpunkt. Also die Frage, ob in den täglichen Arbeitsgewohnheiten und -Abläufen die strukturelle Gefahr besteht, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker diskriminiert werden als andere. Die Antwort, Achtung Spoiler-Alarm- ist natürlich Ja. 

Das Forschungsteam hat festgestellt, dass die von der Polizei durchgeführten Identitätskontrollen vor allem Personen betreffen, die als Migranten erkennbar sind: insbesondere junge Männer, Personen mit linker politischer Einstellung und Jugendliche, die als arabisch oder türkisch wahrgenommen werden. (Die vollständige Studie kann hier eingesehen werden). 

2011 wurde in Frankreich ein bahnbrechendes Buch zur Arbeit französischer Ordnungskräfte veröffentlicht: La Force de l'ordre („Die Kraft des Befehls“, Seuil) des Anthropologen Didier Fassin. Dabei handelt es sich um eine fast zweijährige Feldstudie (2005-2007) innerhalb einer „Bac“ (Brigade gegen Kriminalität), die in einem Pariser Vorort tätig war. Fassin erklärt, was es für einen jungen Mann bedeutet, systematisch angehalten und mehrmals am Tag manchmal von denselben Polizisten kontrolliert zu werden. Auch zeigt er willkürliche Verhaftungen und die Unverhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen.

Ein beeindruckendes Bild gibt das Buch auch über die Langeweile der Beamten und den Druck, der auf die Polizei ausgeübt wird„die Zahlen auszugleichen“, was am Ende einer Schicht buchstäblich zur „Jagd“ auf Migranten führt. Auch wenn Rassismus mittlerweile banal geworden ist in Frankreich, so beeinflusst der jeweilige politische Kontext diesen mehr oder weniger, kommt Didier Fassin zu seinem Schluss. 

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ECF, Display Europe, European Union

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