Wenn es dann Remigration heißen soll, dann heißt es eben Re-mi-gration“, verkündete Alice Weidel Anfang Januar auf dem AfD-Parteitag in Riesa und bekam dafür viel Beifall – ein Jahr nachdem eben dieser Begriff eine Schockwelle in Deutschland ausgelöst hatte. Weidel ist die erste AfD-Kanzlerkandidatin seit Gründung der Partei 2013. Umfragewerte von aktuell 20,8 % bei dieser Bundestagswahl rechtfertigen diesen Schritt. „Alice für Deutschland“, rufen ihre Anhänger, was so ähnlich klingt wie die SA-Parole „Alles für Deutschland“.
Eine so hemmungslose Rhetorik kannte man bisher von Hardlinern wie dem rechtsradikalen Vorsitzenden der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Björn Höcke, den Alice Weidel lange aus der Partei ausschließen wollte.
Verdacht auf Volksverhetzung
Doch stattdessen dreht sich die Radikalisierungsspirale auf Hochtouren und bisher unvorstellbare - teils verfassungswidrige - Ereignisse scheinen sich ausgerechnet in Deutschland zu überschlagen. So versendete die AfD in diesem Wahlkampf Flyer, die Abschiebetickets imitieren. „Passagier: Illegaler Einwanderer, von: Deutschland, nach: Sicheres Herkunftsland, Gate: AfD“. Bereits in den 1930er-Jahren hatten Hitlers Anhänger Bahntickets nach Jerusalem an Juden und Jüdinnen verteilt -die Polizei ermittelt nun wegen Verdachts auf Volksverhetzung.
Immer zynischer gehen die Rechtsextremen vor, gestützt von Trumps ultrarechter Hand Elon Musk. Er plauderte mit Alice Weidel auf X und streamte ihre Reden. Am 26. Januar zum Wahlkampfauftakt der AfD in Halle bedauerte er live per Video zugeschaltet, Deutschland fokussiere sich zu sehr auf vergangene Schuld. „Seid stolz, Deutsche zu sein“, sagte er - einen Tag vor dem Gedenken an die Opfer des Holocaust, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.
„Die Sozialen Netzwerke mit ihren Algorithmen, die Hass und Hetze belohnen – vor allem X und TikTok – haben die Grenzen des Sagbaren verschoben. Rechtsnationale Hetzer finden einander, fühlen sich im virtuellen Rudel stärker – die AfD hat dieses Potenzial früh erkannt“, erklärt Anette Dowideit, zweite Chefredakteurin des unabhängigen Mediums Correctiv, welches das Geheimtreffen in Potsdam vor einem Jahr aufgedeckt hat.
Dort hatten sich Rechtsextreme, darunter AfD-Mitglieder, über ihre geplante Remigration ausgetauscht. Ein Begriff, dessen Tragweite viele in Deutschland noch nicht erfasst haben, was zur Verharmlosung der Partei führt. „Nach unserer Potsdam-Recherche hat sich die AfD bemüht, den völkischen Begriff ‘Remigration’ salonfähig zu machen, um ihn nun ins Parteiprogramm schreiben zu können. Die Taktik der Partei ist, zu verschleiern, wie sie den Begriff wirklich meint, und einige Medien lassen sich offenbar auf diese Vernebelungsstrategien ein“, so Dowideit. Genau diese Taktik hat Correctiv deshalb in einem ausführlichen Beitrag erklärt, in dem von der „Neuen Rechten“ verwendete Begriffe historisch eingeordnet und entschlüsselt werden – wir veröffentlichen eine Zusammenfassung davon auf Voxeurop.
Darin wird deutlich, dass der „zunächst harmlos klingende Ausdruck Remigration“ tatsächlich eine „millionenfache Vertreibung von Menschen“ aus Deutschland bedeutet. Darunter auch 5 bis 6 Millionen „nicht assimilierte Staatsbürger“, also Deutsche mit migrantischem Hintergrund, die nach Meinung der Rechtsextremen kulturell nicht genug an das deutsche Volk angepasst seien. Und das, erklärt Correctiv, entspreche der völkischen Ideologie, der zur Folge alles Fremde aus einer homogenen Gemeinschaft vertrieben oder vernichtet werden müssen, was schlimmste Erinnerungen an die Nazizeit weckt.
Erdbeben im Bundestag
Umso schockierender war, dass CDU-CSU Kanzlerkandidat Friedrich Merz erstmals bereit war, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen, um die Migrationspolitik in Deutschland zu verschärfen. Noch vor der Wahl wollte er ein neues Asylgesetz durch den Bundestag bringen und stellte dafür am 29. Januar zwei Anträge, in denen auch die verfassungs- und europarechtswidrige Zurückweisung von Asylsuchenden an deutschen Grenzen gefordert wurde und die mithilfe der AfD-Stimmen angenommen wurden. Ein beispielloser Tabu- und Vertrauensbruch, hatte Merz noch vor der Wahl betont, er werde einen solchen Schritt niemals gehen.
Die darauf folgende Abstimmung für den Gesetzentwurf im Bundestag allerdings verlor er knapp, weil sich viele Liberale (FDP) und 12 Abgeordnete seiner eigenen Partei enthalten hatten. SPD und Grüne stimmten geschlossen dagegen, müssen nun jedoch entscheiden, ob sie weiterhin bereit sind, nach den Wahlen eine Koalition mit Merz’ CDU einzugehen, die mit 30,1 % in den Umfragen vorne liegt. Resultat: Chaos im Bundestag und eine jubelnde AfD, weil nach Österreich nun auch in Deutschland die bisher unantastbare Brandmauer gefallen zu sein scheint. „SCHMerz“, fasst Der Spiegel auf seinem Titel das Gefühl vieler Deutscher in einem Wort zusammen.
Nach dem Remigrations-Schock vom letzten Jahr, der eine Million Menschen landesweit auf die Straßen trieb, versammelten sich nun Hunderttausende in Deutschland, um gegen den Rechtsruck zu demonstrieren und die Gegenbewegung ist nicht nur auf den Straßen aktiv. „Viele, die im vergangenen Januar und jetzt wieder auf die Straße gegangen sind, engagieren sich in ihren Städten und Gemeinden in Demokratiebewegungen“, erklärt Anette Dowideit.
Vernetzen, Synergien schaffen, eigene Themen setzen
Bestätigen kann das Lorenz Blumenthaler, Autor und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit bei der Amadeu Antonio Stiftung, die sich bundesweit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzt. „Es gibt mehr und besser strukturiertes Engagement. Ich bin seit 10 Jahren aktiv und sehe, wie die verschiedenen Protestbewegungen aufeinander aufbauen und voneinander lernen. Die Massendemonstrationen vom letzten Jahr gegen die AfD waren nur möglich, weil es eine starke Vernetzung mit Fridays for Future gab. Die gleichen Kids sind gegen Rechts auf die Straße gegangen, weil sie Klimaschutz mit der AfD nicht kriegen.“
Gegen Rechtsextreme geht die Stiftung auf mehreren Ebenen vor: von Workshops zum Kontern rechtsextremer Parolen über die finanzielle Unterstützung von Demokraten etwa im ostdeutschen ländlichen Raum, wo Rechtsextreme bereits das Sagen haben, bis zur politischen Lobbyarbeit im digitalen Raum. „Lügen auf X zu widerlegen, ist Zeitverschwendung. Entscheidend ist, dass wir Narrative schaffen, denen CDU und AfD nichts entgegensetzen können. Es bringt nichts, nur dagegen zu sein, dann macht man denselben Fehler wie die Parteien, die der AfD hinterherlaufen, anstatt eigene Ideen voranzutreiben“, erklärt Lorenz Blumenthaler.
„Zeit Courage zu zeigen“: Bundestag berät über AfD-Verbotsantrag
Eigene Themen setzen! Lorenz Blumenthaler und sein Presseteam tun das, indem sie nun zum Beispiel auf den AfD-Verbotsantrag hinweisen, den 105 Abgeordnete stellten, um vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen, ob die AfD verfassungswidrig ist und verboten werden kann. Am 30. Januar hat der Bundestag zum ersten Mal darüber beraten. Initiator des funktionsübergreifenden Antrags ist der sächsische CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz, der die AfD im Bundestag als „Verfassungsfeinde, Feinde unserer Demokratie und Menschenfeinde“ bezeichnete.
Er ist einer der Abweichler, der gegen Merz’ Asylgesetz stimmte, was neben den erneuten Massenprotesten gegen CDU und AfD zeigt, dass die Brandmauer zwar bröckelt, aber doch noch nicht gefallen ist.
🤝 Dieser Artikel wurde im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht
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