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Europa steht vor einem Mangel an Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern

Europa ist heute mit einem Mangel an Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen konfrontiert. Auch die Allgemeinmediziner*innen bleiben nicht verschont, da der Beruf mit einer Überalterung der Ärztinnen und Ärzte, einer ungleichen territorialen Verteilung und mangelnder Attraktivität zu kämpfen hat.

Veröffentlicht am 26 Februar 2025

Traditionell stellen Allgemeinmediziner*innen die „erste Frontlinie“ in Sachen Gesundheit dar: Sie untersuchen leidende Menschen, bevor sie sie gegebenenfalls an Spezialistinnen oder Spezialisten weiterleiten. In vielen europäischen Ländern scheint der Beruf Opfer einer doppelten Dynamik zu sein: Während die Bevölkerung wächst und altert, hat die Zahl der Allgemeinmediziner*innen – die ebenfalls mit einer Überalterung konfrontiert sind – Mühe, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten.

Allgemeiner Mangel an Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern

Die Ursachen sind zahlreich und komplex, und die Feststellung ist allgemein gültig. „Allgemeinmediziner*innenmangel gibt es überall auf der Welt“, erklärt Tiago Villanueva, Allgemeinmediziner in Portugal und Präsident der European Union of General Practitioners / Family Physicians (Europäische Union der Allgemeinmediziner/Familienärzte) (UEMO) für den Zeitraum 2023-2026. Seiner Meinung nach ist das ein allgemeines Problem auf dem gesamten Kontinent, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU. „Das bedeutet, dass es nicht nur ein Problem der Bezahlung [...] und der Arbeitsbedingungen ist“, argumentiert er und führt als Beispiele Norwegen und Dänemark an, zwei Länder, die trotz hoher Lebensqualität und günstiger Gehälter ebenfalls mit einem Mangel in diesem Bereich zu kämpfen haben.


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Er nennt auch andere Faktoren, die dazu beitragen können: die mangelnde Wertschätzung des Berufs im Vergleich zu anderen Fachrichtungen (insbesondere während des Hochschulstudiums), die Schwierigkeit des Berufs, lange Fahrtzeiten, die unzureichende Attraktivität von Gebieten mit angespannter Lage usw.

Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2023 fasst die Situation zusammen: „Viele Länder sind mit einem aktuellen und/oder prognostizierten Mangel an Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern konfrontiert, der durch die Alterung und Feminisierung der in der primären Gesundheitsversorgung Tätigen noch verschärft werden kann, da Allgemeinmediziner*innen häufiger in Teilzeit arbeiten“. Er erwähnte auch „Ungleichgewichte in der geografischen Verteilung von Fachkräften der primären Gesundheitsversorgung, hauptsächlich zwischen ländlichen und städtischen Gebieten“.

Die – sehr unvollständigen – Daten, die wir auf europäischer Ebene abrufen konnten, ermöglichen es uns, ein Bild der Situation in mehreren Ländern zu zeichnen.

Methode

Die für diesen Artikel gesammelten Daten sind bruchstückhaft. Da jedes Land seine Allgemeinmediziner*innenpopulation auf unterschiedliche Weise erfasst, ist die Erstellung eines Korpus vergleichbarer Daten komplex. Sofern nicht ausdrücklich etwas anderes angegeben ist, haben wir uns für die Zwecke dieser Erhebung auf Allgemeinmediziner*innen konzentriert, die im Bezugsjahr als aktiv bestätigt wurden.

In einigen Ländern sind Allgemeinmediziner*innen nicht die einzigen praktizierenden Ärztinnen und Ärzte, die Primärversorgung leisten können. Dies ist insbesondere in Deutschland (für Internistinnen und Internisten) und Griechenland (für Pathologinnen und Pathologen) der Fall. Die Grafik gibt daher nicht das gesamte Angebot an Primärversorgung in diesen Ländern wieder. Sofern nicht anders angegeben, berücksichtigen die Daten auch keine anderen Behandelnden, die zur Erbringung der gleichen Art von Versorgung berechtigt sind, wie z. B. Arzthelfer*innen oder nicht spezialisierte Ärztinnen und Ärzte bzw. solche, die sich noch in der Facharztausbildung befinden.

Die analysierten Daten – und ihre Quellen – für Deutschland (Deutsche Ärztekammer), Belgien (Service public fédéral Santé publique), Bulgarien (Nationales Statistisches Amt), Kroatien (Kroatisches Institut für öffentliche Gesundheit), Frankreich (Nationales Institut für Statistik und wirtschaftliche Studien), Griechenland (Hellenische Statistikbehörde), Irland (Medizinischer Rat), Italien (Ministerium für Gesundheit), die Niederlande (Nivel-Stiftung), Portugal (Ärztekammer), Slowenien (Nationales Institut für öffentliche Gesundheit) und Serbien (Serbisches Institut für öffentliche Gesundheit  „Dr. Milan Jovanović Batut“, Statistisches Amt der Serbischen Republik), sind über die Links zugänglich.

Der Mangel an einheitlichen Daten in diesem Bereich wurde übrigens im Jahresbericht Health at a Glance: Europe 2024 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgehoben.

Doppelte Alterung

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Alterung der auf 449,2 Millionen Menschen im Jahr 2024 geschätzten europäischen Bevölkerung. Diese wächst zwar, erneuert sich aber deutlich langsamer.

Diese Situation wird im oben zitierten Jahresbericht der OECD beschrieben: „Der Anteil der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter in der EU ist von 16 Prozent im Jahr 2000 auf 21 Prozent im Jahr 2023 gestiegen und wird aufgrund der höheren Lebenserwartung und der niedrigeren Fertilitätsraten bis 2050 voraussichtlich fast 30 Prozent erreichen. Diese demografische Entwicklung dürfte zu einem starken Anstieg der Nachfrage nach Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege führen.“

Laut der OECD war der Anteil der über 65-Jährigen im Jahr 2023 in Italien und Portugal besonders hoch. Diese beiden Länder werden voraussichtlich ebenso wie Griechenland, Spanien oder Litauen bis zum Jahr 2050 eine deutliche Beschleunigung der Alterung ihrer Bevölkerung erleben.

Die Alterung der Bevölkerung hat auch eine andere zur Folge: die Alterung der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen. In dem Bericht Health at a Glance: Europe 2024 heißt es: „Die Alterung der Mediziner*innen ist in vielen EU-Ländern ein zunehmendes Problem, da ein großer Teil der Ärztinnen und Ärzte sich dem Rentenalter nähert und eine nicht unerhebliche Anzahl das Rentenalter bereits überschritten hat. Im Jahr 2022 waren mehr als ein Drittel (35 %) der Ärztinnen und Ärzte in den EU-Ländern über 55 Jahre alt, wobei dieser Anteil in fast der Hälfte der EU-Länder 40 % oder mehr betrug. Italien und Bulgarien sind die beiden am stärksten betroffenen EU-Länder, in denen mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte älter als 55 Jahre und mehr als ein Fünftel älter als 65 Jahre waren“.

„Wir werden in den nächsten zehn Jahren große Probleme haben“, sorgt sich Villanueva. Was wird nämlich passieren, wenn die alte Garde in den Ruhestand geht? Wird es der Eintritt junger Ärztinnen und Ärzte in die Gesundheitssysteme schaffen, den Verlust eines bedeutenden Teils des Berufsstandes auszugleichen?

Im Jahr 2021 waren in Belgien 2.545 Allgemeinmediziner*innen im Alter von über 65 Jahren im Beruf (nach Zahlen des Föderalen Öffentlichen Dienstes Öffentliche Gesundheit), d. h. fast 20 % aller Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin. Im selben Jahr gab es 2.737 Allgemeinmediziner*innen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren – etwas mehr als 21 % aller praktizierenden Ärztinnen und Ärzte. Die Abgänge in den Ruhestand beunruhigen umso mehr, als die neue Generation, die mehr Wert auf ein ausgewogenes Leben legt, möglicherweise nicht ausreicht, um diesen Rückgang auszugleichen. „Heute schätzt man, dass zwei junge Menschen nötig sind, um eine Ärztin oder einen Arzt zu ersetzen, die/der in den Ruhestand geht“, argumentiert Elodie Brunel, Vizepräsidentin der Société Scientifique de Médecine Générale (SSMG). Eine Ärztin oder einen Arzt, die/der wegen Antritt des Ruhestands ausscheidet, durch eine(n) neue(n) zu ersetzen, könnte daher nicht ausreichen.

Es ist heute schwierig, die optimale Anzahl von Patientinnen und Patienten pro Mediziner*in zu ermitteln, zumal diese je nach Land und Situation variiert. „Wir schätzen, dass 800/900 Patientinnen und Patienten [pro Jahr] pro Mediziner*in die Schwelle ist, über der es kompliziert wird zu arbeiten“, erklärt Brunel. Dabei ist jedoch die ungleiche Verteilung des Berufsstandes im Gebiet noch nicht berücksichtigt – ein Problem, das übrigens in Europa weit verbreitet ist.

Geteilte Territorien

In der EU sind die Ungleichheiten zwischen ländlichen und städtischen Gebieten in Bezug auf die Gesundheitsversorgung weitgehend bekannt und dokumentiert. In Frankreich hat sich der allerdings umstrittene Ausdruck „medizinische Wüsten“ verbreitet, um (oft ländliche) Gebiete zu bezeichnen, die durch einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung gekennzeichnet sind.

Der Atlas der medizinischen Demografie in Frankreich, der vom nationalen Rat der Ärztekammer Frankreichs im Jahr 2022 verfasst wurde, fasst zusammen: „Die Zahl der regelmäßig tätigen Allgemeinmediziner*innen ist in den am dichtesten besiedelten Departements größer. Außerdem scheint sich eine gewisse „Diagonale der Leere“ vom Nordosten zum Südwesten Kontinentalfrankreichs abzuzeichnen. In diesen oftmals dünn besiedelten Departements ist eine geringe Anzahl regelmäßig tätiger Allgemeinmediziner*innen zu erkennen“. In Frankreich verlieren die Departements in der Mitte des Landes Allgemeinmediziner*innen, während die Departements an der Atlantikküste und in den Überseegebieten eine gegenläufige Tendenz aufweisen. Seit 2010 gibt es in 84 (von 101) Departements zu wenig Allgemeinmediziner*innen, so der nationale Rat der Ärztekammer (Conseil national de l'ordre des médecins).

Die EU-Mitgliedstaaten reagieren angesichts dieser Engpässe. In Rumänien und Belgien gibt es Subventionen, um die Niederlassung von Hausärztinnen und -ärzten in Gebieten mit angespannter Versorgungslage zu erleichtern. Griechenland sieht finanzielle Anreize für Ärztinnen und Ärzte vor, die sich für die Fachgebiete Allgemeinmedizin oder Pathologie entscheiden. Frankreich ersetzte im Jahr 2020 den „Numerus clausus“, das System, das die Anzahl der zum zweiten Jahr des Medizinstudiums zugelassenen Studierenden begrenzte und das für einige zum Mangel an Ärztinnen und Ärzten in ländlichen und angespannten Gebieten beigetragen hat.

Keine „Patentlösung“

In ihrem oben zitierten Bericht aus dem Jahr 2023 führt die WHO mehrere Lösungen zur Bekämpfung des Mangels detailliert auf: Betonung der Allgemeinmedizin in der Hochschulbildung durch Praktika oder entsprechende Einsätze; höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen; ein besseres Verständnis der Gesundheitssysteme, um Krisen wirksam vorbeugen zu können...

„Es gibt nicht das eine ‚Patentrezept‘ zur Steigerung der Attraktivität der Primärversorgung, sondern ein Kontinuum von Primärversorgungsmodellen“, fasst der Bericht zusammen. „Auf der Grundlage einer Kontextanalyse sollten Elemente von Primärversorgungsmodellen entwickelt und/oder an die lokalen Bedürfnisse und Präferenzen der Medizinstudierenden, des medizinischen Personals in der Primärversorgung, der Patientinnen und Patienten und der breiten Öffentlichkeit angepasst werden.“

Tiago Villanueva von der European Union of General Practitioners / Family Physicians (UEMO), bleibt angesichts der Ermutigung, neue Ärztinnen und Ärzte auszubilden, vorsichtig. „Die Regierungen entscheiden sich oft für eine ‚negative Politik‘“, bedauert er. „Sie bevorzugen Dinge wie die Erhöhung der Anzahl von Plätzen in medizinischen Schulen oder für die Ausbildung von Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern. Im Grunde versuchen sie, das Angebot zu erhöhen“, argumentiert er. „Denn wenn man das Angebot erhöht, gleicht man die Nachfrage aus, nicht wahr?“

Dieser Ansatz muss jedoch seiner Meinung nach mit „positiver Politik“ einhergehen – d. h. mit einer Politik, die den Beruf für junge angehende Allgemeinmediziner*innen attraktiver macht und dafür sorgt, dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte von Jahr zu Jahr gehalten wird. „Wenn man den Beruf nicht attraktiver macht, pumpt man mehr Ärzte in das System, aber sie werden nicht in die Allgemeinmedizin gehen, sondern eine andere Fachrichtung wählen oder das Land verlassen“.

In Partnerschaft mit dem European Data Journalism Network
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