Interview Das Mittelmeer

Albanischer Autor Arian Leka: „Exodus ist eine Metapher für das Leben“.

Ein Gespräch mit dem albanischen Schriftsteller Arian Leka über das Schreiben, die Rolle des Meeres und die Erfahrung der Emigration und des albanischen Exodus in den 1990er Jahren, der bis heute im Unterbewusstsein und in der Kultur präsent ist.

Veröffentlicht am 24 Juli 2025

Arian Leka ist eine unverwechselbare Figur in der literarischen Landschaft des Balkans. In seinen Gedichten, Kurzgeschichten, Essays und Romanen erforscht er das Phänomen der Migration und des Exils, wobei er sich besonders auf die albanische Erfahrung konzentriert und über die Kultur und Geschichte des Mittelmeers reflektiert.

Arian Leka

Das Meer ist eine der literarischen Obsessionen von Leka: Es zieht sich wie ein roter Faden durch seine Werke und erscheint als Ort der Hoffnung oder als Grab für diejenigen, die auf der Suche nach einem besseren Leben von seinen Wassern verschlungen werden.


Osservatorio Balcani Caucaso Transeuropa: Sie beschäftigen sich häufig mit dem Thema Migration, Vertreibung und Exil. Dabei gehen Sie von der Erfahrung der albanischen Emigration in den frühen 1990er Jahren aus und verknüpfen diese mit den heutigen Formen der Migration.

Arian Leka: Dieses Thema behandele ich in vielen Werken, darunter Härte Memece për të mbyturit [„Stumme Karte für die Ertrunkenen“, Poeteka] aus dem Jahr 2019. In diesem Buch werden Momente aus meinem persönlichen und familiären Leben mit umfassenderen Erfahrungen des albanischen Volkes und der Menschheit verwoben. Im Hintergrund dominiert das Thema Meer. Der Gedanke des Exodus übt eine immense Anziehungskraft aus, denn es geht nicht einfach um eine Flucht oder einen Aufbruch, der die Möglichkeit einer Rückkehr offenlässt. Es handelt sich um eine substantielle Verschiebung, eine Entwurzelung, die Leben und Landschaften verändert, ein soziales Erdbeben.

Für mich ist der Exodus eine physische Bewegung und eine universelle Konstante, eine Metapher für das Leben. Eine Reise. Die Geburt ist ein kleiner Exodus, ebenso wie die Phantasie. Im Laufe unseres Lebens erleben wir täglich kleine Exodusse in der Schule, in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz. Das Leben ist eine endlose Abfolge von Auf- und Abgängen, ein Übergangsritus. Selbst der Tod ist eine Form des Exodus. Diese inneren, intimeren Aufbrüche bereiten uns auf den endgültigen vor. Ich sehe es als einen kontinuierlichen Urknall, ein breites Panorama von Aufbrüchen: das Verlassen der Heimat, die Flucht vor der Liebe. In diesem Zusammenhang ist die albanische Erfahrung für mich eine Linse, die es mir ermöglicht, mich den Erfahrungen anderer Völker zu nähern, die mit dem Meer, insbesondere dem Mittelmeer, verbunden sind.

Historisch gesehen waren die Albaner*innen von dieser Vertreibung stark betroffen, wie die Massenexodusse zeigen. In diesem Buch habe ich drei Register verwendet, um die Geschichte der Auswanderung zu erzählen. Nicht nur verzweifelte Menschen gehen, sondern auch Bürger*innen aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten, die Teile ihrer Identität mitnehmen: Säulen, Ornamente, Schmuck, Wappen, Familienwappen und sogar Blumen und Tiere – alles, was transportiert werden kann. Nur Bäume, Landschaften und Gräber bleiben zurück.

Obwohl es sich um ein Buch über Migration handelt, über die auf dem Meer Verlorenen unter den Migrierenden und Menschenhandelnden, erforsche ich in diesem Werk auch die unendlichen Formen des Exodus: vor sich selbst zu fliehen, während man versucht, seine Wurzeln zu bewahren und gleichzeitig den Samen des Anderen zu säen.

Aus Ihrer Arbeit geht hervor, dass die Emigration eine der traumatischsten Erfahrungen in der albanischen Gesellschaft nach dem Sozialismus ist. Wie hat sich das auf die Kultur des Landes nach dem Fall des Enver Hoxha-Regimes ausgewirkt?

Ich höre oft, dass vom „Eisernen Vorhang“ gesprochen wird. Dieser Begriff impliziert die Hoffnung, dass die Mauern früher oder später verschwinden oder einstürzen werden. In Albanien gab es keine Vorhänge, nur Betonbarrieren und Sackgassen. Man findet in der Geschichte nur wenige Exodusse wie den Albanischen zwischen 1990 und 1992. Diebstähle von Schiffen und Versuche, jedes Transportmittel in ein Boot zu verwandeln, waren bis dahin unbekannt. Sogar Lastwagen mit Rädern wurden auf Fässer gesetzt, um sie zu Booten zu machen.

Die Auswirkungen dieses Exodus sind mit einem Tsunami vergleichbar. Die unmittelbaren Folgen – Mangel, Isolation, sprachliche und kulturelle Abgrenzung – sind auch dann noch spürbar, wenn sich die wirtschaftliche Lage verbessert. Die Gesellschaft bleibt gespalten. Was mit der Notwendigkeit begann, für die Arbeit auszuwandern, hat sich zu einer Flucht von gebildeten und „gut etablierten“ Menschen auf der Suche nach besseren Möglichkeiten entwickelt, als ob das Leben immer anderswo, weit weg von der Heimatstadt, zu finden wäre.


„Im Laufe unseres Lebens erleben wir täglich kleine Exodusse in der Schule, in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz. Das Leben ist eine endlose Abfolge von Auf- und Abgängen, ein Übergangsritus. Selbst der Tod ist eine Form des Exodus“


Dieses Phänomen betrifft inzwischen unsere gesamte Region. Man hat das Gefühl, dass unsere Gebiete als Arbeitskräftelieferanten für westliche Länder dienen, die bessere Lebensbedingungen bieten. Deshalb bleibt dieses Thema ein wesentlicher Bestandteil meiner literarischen Produktion.

Sie sind mit dem kulturellen Raum des Mittelmeeres verbunden, das der Schauplatz Ihrer Bücher ist. Was bedeutet Ihnen Ihre Heimatstadt Durrës?

Schriftstellende machen oft ähnliche Erfahrungen wie endemische und indigene Pflanzen. Der Ort, an dem ich geboren wurde, hat meine Identität geprägt und mir die Überzeugung vermittelt, dass kleine Räume gleichzeitig durch lokale Vertrautheit und durch Weltoffenheit gekennzeichnet sein können. Diese Räume müssen bewahrt werden, unabhängig davon, ob sie von Einheimischen geschaffen oder von Fremden geprägt wurden. Die Stadt Durrës hat meine Vorstellung vom Vergänglichen und Unvollkommenen bestimmt. Orte, an denen das Meer immer präsent ist, haben etwas Besonderes an sich.

In Durrës steht der Mensch dem Meer gegenüber, und doch sind es zwei grundverschiedene Wesen: Das Meer ist weit und horizontal, während der Mensch aufrecht wie ein Ausrufezeichen vor dem Meer steht, ein Beobachter, der das Meer bewundert. Diese Dynamik hat meine Vorstellungskraft zutiefst beeinflusst. Durrës war der Schauplatz vieler Formen des gesellschaftlichen Lebens, eine Provinzstadt, aber auch eine Metropole, eine alte und zugleich experimentelle Stadt, vor allem während der sozialistischen Zeit. Eine versteckte Ecke des typisch mediterranen Friedens und gleichzeitig ein Ort der rhythmischen Wiederholung: eine Propagandaausstellung, der Sitz der ersten apostolischen christlichen Gemeinde und der Ausgangspunkt einer atheistischen Revolution.

Wir sprechen von einer paradoxen Stadt voller Widersprüche in ihrem begrenzten, aber fruchtbaren Gebiet.

Das Meer ist der Mittelpunkt Ihres Schreibens. Ich habe den Eindruck, dass es für Sie eine allgegenwärtige Metapher ist. In einer Textpassage stellen Sie fest, dass das Mare nostrum zum Mare mortuum geworden ist ...

Neben der Auswanderung nimmt das Meer einen wesentlichen Platz in meinen Werken ein. Variationen dieses Themas tauchen in fast allen meinen Büchern auf. Ich habe bewusst versucht, die Klischees mediterraner Postkarten zu vermeiden und stattdessen die Geschichte des menschlichen Schicksals jenseits der atemberaubenden Landschaften – fernab von Sonnenuntergängen und duftendem Rosmarin – zu erzählen und die Realität des Lebens am Meer zu erkunden. Die Berufe, die mit dem Meer verbunden sind – Matrosinnen und Matrosen, Fischer*innen usw. – sind alles andere als romantisch.

Ich habe mich dem Meer durch das Prisma der Migrierenden genähert, die nur nach Tragödien auf unseren Bildschirmen erscheinen. Diese Auslöschung von Migrierenden ist eine neue Form der Ausgrenzung, ein moderner Rassismus. Das Meer wird als eine „allumfassende Metapher“, mit seiner großartigen mediterranen Schönheit und seiner Doppelnatur als Mare nostrum und Mare mortuum, gezeigt.


„Gab es jemals ein Zeitalter, das von Güte und Verständnis geprägt war?“


Dieses Mare nostrum hat sich jedoch nicht von selbst in ein Mare mortuum verwandelt. Wir haben es zu einem Monster gemacht, das sich von Menschen ernährt – ja, es scheint bevorzugt ganze Boote zu verschlingen. Wir neigen dazu, den Sender zu wechseln, wenn tragische Bilder auf dem Bildschirm erscheinen. Sie stören unsere Bequemlichkeit und wecken in uns ein zutiefst menschliches Gefühl, nämlich das der Traurigkeit, vor dem wir oft fliehen. Angesichts dieser Bilder flüchten wir uns in unsere modernen Höhlen – Wohnungen, Büros und Wellnesszentren –, Räume, die wir mit „schönem Leben übertünchen“, wo wir Bilder von einem ruhigen Meer einrahmen und glücklich und lächelnd erscheinen.

Es ist jedoch leicht, selbstgerecht zu sein und ständig über das Verschwinden des menschlichen Mitgefühls zu sprechen. Gab es jemals ein Zeitalter, das von Güte und Verständnis geprägt war? Selbst in den Geschichtsbüchern gibt es kein goldenes Zeitalter. Prähistorische Epochen sind nach Waffen, Werkzeugen und gewalttätigen Praktiken benannt – man denke an die Eisenzeit und die Bronzezeit.

Ihre Bücher lassen durchblicken, dass Sie an die Aufgabe der Literatur glauben. Welche Rolle spielt die Literatur heute?

Viele Sprichwörter behaupten, dass die Feder mächtiger ist als das Schwert und dass das Geschriebene nicht ausgelöscht werden kann. Ich würde das gerne glauben, aber Fechten ist nicht mein Lieblingssport. Für mich ist das eine Illusion, aber ich empfinde keine Verzweiflung und bin nicht gewillt, auf den Einsatz meiner Feder als Schwert zu verzichten. Seien wir realistisch: Die Schriftstellenden sind nicht mehr die „geheimnisvollen Urhebenden der Gesetze der Welt“. Anstelle der rebellischen Schriftstellenden herrschen heute die Schriftstellenden vor, die – Priesterinnen und Priestern gleich – Teil der Prozession und der literarischen Liturgie sind. Es ist also klar, dass das Schwert den Text diktiert, auch wenn die Feder immer noch einen Einfluss auf die Lesenden ausüben kann.


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Ich komme aus einem Land, das unter einer Diktatur gelebt hat, in dem die Feder der albanischen Schriftstellenden leider dem Diktat des ideologischen Schwertes unterworfen war. Da der politische Pluralismus verboten war, fehlte auch der ästhetische Pluralismus, anders als im ehemaligen Jugoslawien. Die begabten albanischen Schriftstellenden hatten ihre Federn in Schwerter verwandelt, indem sie den Sozialismus als ein wunderbares Phänomen darstellten, das eine rosige und sichere Zukunft versprach.

Es ist nicht meine Absicht, jemanden zu verurteilen, aber es ist leichter, die Feder zum Schwert zu machen als umgekehrt. Wir haben nicht das Glück gehabt, Schriftstellende wie Miroslav Krleža oder Danilo Kiš zu haben, die ein inneres Exil erlebten. Die Literatur behält ihre Bedeutung und Kraft, aber wir müssen vermeiden, eine neue Utopie zu schaffen, die vom Schreiben bestimmt wird.

🤝 Dieses Gespräch wurde im Rahmen der Collaborative and Investigative Journalism Initiative (CIJI) geführt, einem von der Europäischen Kommission kofinanzierten Projekt. Ursprünglich veröffentlicht von Novosti und Osservatorio Balcani Caucaso Transeuropa. Weiter zur Projektseite

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