Zu überprüfende Behauptung: In den ersten vier Monaten des Jahres 2025 haben die griechischen Behörden 150 Flüchtlinge und Menschenschmuggler festgenommen.
Kontext: Die Eindämmung der Einwanderung durch die Verhaftung von Schmugglern ist eine der obersten Prioritäten der mitte-rechts Regierung Griechenlands. Um Erfolge vorweisen zu können, wendet sie eine sehr weit gefasste Definition des Begriffs „Schleuser” an. Unterdessen fällen die Gerichte oft unter Missachtung der Rechtsstaatlichkeit voreilige Urteile gegen Migrierende.
Am 17. April 2025 behauptete der frisch ernannte Minister für Migration und Asyl, Makis Voridis, in einer Sendung des griechischen Fernsehsenders SKAI TV, dass in den ersten vier Monaten des Jahres „über 150 Schleuser” von Flüchtlingen und Migrant*innen festgenommen worden seien. „Fast jeden Tag wird ein illegaler Schleuser festgenommen”, wiederholte er später im Fernsehsender Action24 TV.
Eine genauere Betrachtung der Gerichtsakten und der Rechtspraxis auf den griechischen Inseln lässt jedoch ernsthafte Zweifel an dieser Behauptung aufkommen – und daran, wie der Begriff „Schleuser” interpretiert wird.
Was macht einen „Schleuser” aus?
In den letzten drei Jahren hat Solomon Dutzende von Schleuserprozessen auf den Ägäisinseln Lesbos, Samos und Chios beobachtet. Fast ausnahmslos handelte es sich bei den Angeklagten um Asylsuchende, die in überfüllten Schlauchbooten in griechische Gewässer gelangt waren. Ihr Verbrechen? Sie befanden sich am oder in der Nähe des Steuerruders.
Keiner dieser Angeklagten war nachweislich Mitglied eines organisierten kriminellen Netzwerks. Stattdessen wurden sie wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt – oft willkürlich, nur weil sie das Ruder gehalten hatten oder vorne im Boot saßen.
Trotzdem wurden sie nach Gesetzen gegen Menschenschmuggel strafrechtlich verfolgt, die extrem hohe Strafen vorsehen, oft vergleichbar mit denen für organisierte Kriminalität oder Terrorismus.
Schnelle Verfahren, lange Strafen
In diesen Fällen gibt es oft kein faires Verfahren. Gedolmetscht wird schlecht oder gar nicht, und die rechtliche Vertretung ist minimal. Die Anwälte und Anwältinnen werden häufig erst am Tag der Verhandlung bestellt und haben nur wenige Minuten Zeit, um die Akten zu prüfen.
Zwischen 2014 und 2019 dokumentierten Forscher*innen 48 solcher Verfahren mit einer Durchschnittsstrafe von 48 Jahren. Die durchschnittliche Verhandlungsdauer betrug jedoch nur 38 Minuten, einige Verfahren dauerten sogar nur 15 Minuten.
Im Juni 2025 wurden beispielsweise 16 Asylsuchende in Samos wegen Menschenschmuggels vor Gericht gestellt. Zehn von ihnen wurden dank der Unterstützung lokaler Rechtsorganisationen wie dem Human Rights Legal Project in Samos und dem Legal Center of Lesvos oder europäischer Organisationen wie Borderline Europe freigesprochen. Ohne diese Hilfe hätten sie möglicherweise jahrzehntelange Haftstrafen verbüßt, so wie Hunderte andere Flüchtlinge auch.
Von der türkischen Mafia zu verzweifelten Passagieren
Von 2010 bis etwa 2015, dem Jahr, in dem über eine Million syrische Flüchtlinge über die Balkanroute nach Europa gelangten, wurden die Boote, die sie über die Ägäis beförderten, oft von türkischen Staatsangehörigen gesteuert. Als jedoch immer mehr von ihnen inhaftiert wurden, suchte die türkische Mafia, die hinter diesen Netzwerken steckt, nach Alternativen. Zunehmend wurden Kapitäne aus den Reihen der Passagiere selbst rekrutiert – oft willkürlich oder unter Zwang.
Flüchtlinge berichteten, dass sie unter Druck gesetzt oder dazu gezwungen wurden, das Boot zu steuern, manchmal erst im letzten Moment. Junge Männer oder unbegleitete Minderjährige wurden besonders ins Visier genommen, da sie als „entbehrlicher” angesehen wurden oder bei einer Festnahme eher mit einer milden Behandlung rechnen konnten.
Wenn Opfer zu Sündenböcken werden
Einige dieser Fälle, wie der des Angeklagten Mohamad H. sind tragisch. Der somalische Asylbewerber wurde beschuldigt, für das Kentern seines Bootes verantwortlich zu sein – obwohl andere Passagiere aussagten, er habe versucht, sie zu retten. Ein Mitreisender, Hassan, übernahm das Ruder, als ihr Boot manövrierunfähig wurde. Er trug seine schwerbehinderte Mutter auf den Schultern, als er an Bord ging.
Andere wurden einfach dafür angeklagt, dass sie ihre Telefone zur Navigation oder zum Absetzen von Notrufen benutzt hatten. In einem Fall wurde ein Mann, der versuchte, das GPS seines Mobiltelefons zu aktivieren, beschuldigt, die Einreise erleichtert zu haben, und zu über 140 Jahren Gefängnis verurteilt.
Die gleiche Taktik ist in Nordgriechenland zu beobachten, wo Minderjährige oft gezwungen werden, Fluchtfahrzeuge zu fahren und tödliche Unfälle zu riskieren. In all diesen Fällen bleiben die eigentlichen Schleusernetzwerke verschont. Das Gleiche gilt für die Routen von der Türkei nach Italien (wo zuvor ukrainische Kapitäne tätig waren) und für die Fluchtrouten von Libyen nach Italien.
Frühere Daten deuteten darauf hin, dass in Griechenland über 2.200 Menschen wegen Menschenhandels oder „Beihilfe zur illegalen Einreise” inhaftiert wurden. In der Sendung Action24 bekräftigte Makis Voridis (der am 28. Juni von dem Ultrarechten Athanasios Plevris abgelöst wurde), dass ein großer Teil der Gefangenen in Griechenland Menschenschmuggler seien. Tatsächlich bilden mutmaßliche Schmuggler Berichten zufolge die zweitgrößte Gruppe von Gefangenen.
Eine ähnliche Situation ist auch in anderen EU-Einreisestaaten zu beobachten. In Italien beispielsweise wurden laut einem Bericht in den letzten zehn Jahren über 1.000 Asylbewerber*innen kriminalisiert, die angeblich als Schlepperkapitäne tätig waren. In Griechenland gab es zwischen 2015 und 2019 7.000 Festnahmen wegen illegaler Schleusung.
Fehlende Zeugen und Beweise
Ein weiteres Problem ist die Qualität der Zeugenaussagen vor Gericht. Solomon hat zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Beamte und Beamtinnen der Küstenwache keine direkten Kenntnisse über die Ereignisse hatten und trotzdem Aussagen machten. Diese beruhten auf Berichten von Kolleg*innen, ohne dass eine Möglichkeit zur Kreuzvernehmung bestand.
Wenn Hunderte von angeblichen „Schleusern” inhaftiert werden, die Schleusernetzwerke aber weiter operieren, stimmt etwas mit dem derzeitigen Ansatz nicht
In 68 % der 81 Fälle, die Borderline Europe in verschiedenen Regionen Griechenlands analysiert hat, waren Zeugen und Zeuginnen der Polizei oder der Küstenwache vor Gericht überhaupt nicht anwesend. Einige Prozesse dauerten nur sechs Minuten.
Selbst wenn Asylsuchende detaillierte Informationen über die tatsächlichen Schleuser – Namen, Telefonnummern, Zahlungsorte – lieferten, wurden diese Hinweise von den Behörden selten weiterverfolgt.
Das Schiffsunglück von Pylos
Das bekannteste Beispiel für unberechtigte Schmuggelvorwürfe ist das Schiffsunglück von Pylos im Jahr 2023, bei dem mehr als 600 Menschen ertranken. Neun ägyptische Überlebende wurden als Schmuggler verhaftet und für ein Jahr inhaftiert, obwohl die ägyptischen Behörden Griechenland mitgeteilt hatten, dass es sich um Passagiere und nicht um Schleuser handelte.
Eine von Solomon geleitete internationale Recherche ergab, dass diese Männer wie alle anderen für ihre Plätze bezahlt hatten. Ihre einjährige Inhaftierung trotz entlastender Beweise verdeutlicht das systemische Versagen, zwischen tatsächlichen Schleusern und den Menschen, die sie ausbeuten, zu unterscheiden.
Zu hohe Zahlen, fehlerhafte Definitionen
Die Behauptung von Minister Voridis, dass innerhalb von nur vier Monaten 150 Schleuser festgenommen worden seien, mag technisch gesehen zutreffen, aber nur durch eine Definition dieses Begriffs, die auch Asylsuchende einschließt, die gezwungen wurden, Schlauchboote zu steuern. Viele dieser Personen waren minderjährig oder handelten unter Zwang.
Die Frage ist nicht nur, ob die Zahlen stimmen, sondern auch, ob sie relevant sind. Wenn Hunderte von angeblichen „Schleusern” inhaftiert werden, die Schleusernetzwerke aber weiter operieren, stimmt etwas mit dem derzeitigen Ansatz nicht.
Anstatt Schleuserbanden zu zerschlagen, kriminalisiert diese Politik genau die Menschen, die sie zu schützen vorgibt. Sie hat Opfer zu Sündenböcken gemacht und die Gefängnisse mit Menschen überfüllt, die in ihrer Not keine andere Wahl hatten.

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