mate-voxeurop

Männlicher Terrorismus in Europa, nicht nur unter Incels

Gewalttätige Angriffe radikalisierter Männer auf Frauen nehmen zu. Die Fokussierung auf die Incels birgt die Gefahr, einen globaleren Trend aus den Augen zu verlieren, der von MGTOW über Pick-up-Artists bis hin zu anderen radikalen Gruppen reicht. Aber wie soll man mit einem Phänomen umgehen, das viele noch nicht verstanden haben?

Veröffentlicht am 14 November 2025

Timoty G., geboren 2006, wurde letzten Juli im nordfranzösischen Saint-Etienne verhaftet und wegen krimineller Vereinigung zu terroristischen Zwecken angeklagt, die auf die Vorbereitung einer oder mehrerer Straftaten abzielte.

Der Junge, der in der Nähe seiner Schule mit zwei Messern in seinem Besitz festgenommen wurde, ist Anhänger der Incel-Theorien und bestätigte, regelmäßig Videos von männlichen Influencern anzusehen. „Das ist eine Premiere in Frankreich: Nie zuvor hat die französische Justiz einen Mann wegen eines ausschließlich männlich inspirierten Anschlagsplans angeklagt”, schreibt Le Monde.

Das Wort „Incel“ – das nach dem Erfolg der Netflix-Serie Adolescence in den Wortschatz der Medien eingegangen ist – bedeutet „involuntary celibates”, oft übersetzt mit „unfreiwillig zölibatär”, aber besser wäre es mit „unfreiwillig keusch”, wie Francis Dupuis-Déri, Experte für Antifeminismus und Maskulinismus an der Universität von Quebec erklärt.

Denn für „Incels“ gehe es „vor allem um Sex und nicht um die Bildung einer Partnerschaft.” Bei der Incel-Bewegung handelt sich um „Zehntausende junger Männer, die sich als von Natur aus benachteiligt darstellen, weshalb sie von Frauen ignoriert würden, die ihnen sexuelle Beziehungen verweigern.”

Laut veröffentlichten Studien, fügt Dupuis-Déri hinzu, sind diese „jungen Männer extrem frauenfeindlich. Viele von ihnen stacheln offen und ungestraft in den Diskussionsforen ihrer Online-Community zu Vergewaltigungen an und idealisieren Feminizide, die von Incel-Anhängern begangen wurden. Nicht zu vergessen sind außerdem die expliziten Bezüge zum Nationalsozialismus”.

Über die Incels hinaus

Stephanie Lamy ist eine französische Forscherin und Autorin von La terreur masculiniste (Der maskulinistische Terror, Editions du détour), in dem sie die verschiedenen Arten von männlichen und antifeministischen Bewegungen und ihre Vorgehensweisen analysiert und kartografiert.

Die „Incel“, erklärt Lamy, sind jedoch nur der in den Medien sichtbarste Teil einer viel größeren Bewegung: „Insbesondere in Frankreich wissen wir, dass Incels eine Form von Gewalt erzeugen, die aus Sicht des Staates die öffentliche Ordnung und Sicherheit stören könnte. Hinzu kommt das soziologische Profil der Incels, die überwiegend junge Männer sind.” Dieses Profil ermöglicht es „älteren Männern, sich von Sexismus, Misogynie und einem patriarchalen Diskurs zu distanzieren, dem sie selbst möglicherweise aber zustimmen könnten“, fügt sie hinzu.

Frankreich ist in dieser Hinsicht ein interessanter Fall, denn – wenn auch langsam und mit Unterbrechungen – wird dort begonnen, Verbindungen zwischen bestimmten Ereignissen herzustellen, um so die Gemeinsamkeiten dieser neuen männlichen Radikalität auszumachen, was vielleicht ein Ausgangspunkt für andere europäische Länder sein könnte.

Denn es gibt einen roten Faden: So hat beispielsweise am 16. Februar 2025 ein 17-Jähriger live auf Tiktok ein Video gepostet, in dem er drohte, Frauen mit einem Messer anzugreifen. Der Inhalt wurde gemeldet und ermöglichte das Eingreifen der Polizei, schreibt Lamy auf Mediapart.

„Die für den Fall zuständige Staatsanwältin Line Bonnet aus Annecy veröffentlichte dazu eine Erklärung auf X und bestätigte, dass der mutmaßliche Täter mit der Incel-Bewegung in Verbindung stand. Sie gab auch die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bekannt: direkte Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat unter Nutzung einer öffentlichen Onlineplattform, Morddrohungen und Verherrlichung von Terrorismus.” 

Gegenüber Mediapart sagte sie: „Ich habe dies als terroristische Handlung eingestuft, da der Angeklagte sich als Mitglied der Incel-Bewegung bezeichnet hat, die ja selbst als terroristische Organisation eingestuft werden muss. Es handelt sich dabei um eine aufstrebende Bewegung, auf die wir nicht vorbereitet sind. Wir sind an religiöse oder politische Radikalisierungen gewöhnt, aber diese Art von männlicher Radikalisierung ist uns neu.”

Im Mai 2024 plante ein Mann eine Schießerei in Bordeaux, die auf den Jahrestag des Amoklaufs von Isla Vista fallen sollte, ein für die Incel-Bewegung symbolträchtiges Datum. Am gleichen Tag wurde damals in Bordeaux im Vorfeld der Olympischen Spiele in Frankreich allerdings auch die olympische Fackel durch die Stadt getragen, weshalb die Tat für die Behörden im Zusammenhang mit Olympia stand : „Obwohl der Amoklauf in den USA Vorbild für diesen Plan war, wurde der Mann nicht wegen Terrorismus angeklagt“, erklärt Lamy.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

In diesem Artikel geht Lamy bis ins Jahr 2014 zurück, um Gewalttaten in Frankreich aufzulisten, die mit radikalisierten Kreisen in Verbindung stehen könnten.

Das Problem sei, dass sich die Debatte in den Medien und in der Politik oft auf die Incels konzentriere. Sie spricht von einer „Hyperfokussierung“, wodurch andere Akteure der sogenannten „Manosphäre“ wie die MGTOW (Men Going Their Own Way, extremistische maskulinistische Bewegung) oder die Pick-Up-Artists (sexistische, frauenfeindliche Gruppen, die sich auf Verführungs- und Manipulationstechniken stützen) nicht genug beachtet werden. “Der bisher einzige tödliche misogyne Angriff, von dem wir in Frankreich wissen, wurde von einem Mann begangen, der von der MGTOW radikalisiert wurde, nicht von Incel. Es handelt sich um Mickaël Philétas”, dem Mörder von Mélanie Ghione.

Deshalb, betont Lamy, sei es wichtig, den Maskulinismus in seinen verschiedenen Facetten zu betrachten, da es sich um „radikalisierte Milieus“ handle, in denen die Betroffenen je nach Situation und Diskurs von einer Randgruppe zur anderen wechseln können.

„Die Behörden tun sich schwer damit, maskulinistische Ideologien als das zu erkennen, was sie sind: eine Reihe partizipativer Verschwörungstheorien, die Einzelpersonen oder Gruppen zu Gewalttaten sowohl im privaten Bereich (häusliche Gewalt) als auch im öffentlichen Raum (sexuelle Gewalt, groß angelegte Online-Belästigung bis hin zu tödlichen Anschlägen) veranlassen können, mit dem Ziel, die männliche Dominanz wieder zu festigen”, schreibt Lamy in ihrem Buch.

Wie lässt sich Maskulinismus definieren?

„Aus Sicherheitsgründen schlage ich folgende Definition vor: Maskulinismus ist eine Palette von ideologischen Identitätsangeboten, die in verschiedenen Radikalisierungsumfeldern (online und offline) konstruiert, verbreitet und gelebt werden und Gewalt in allen Formen fördern, um die Dominanz von Männern über Frauen und geschlechtlichen Minderheiten aufrechtzuerhalten oder zu verstärken”, erklärt Lamy.

Generell „sollte uns dieser männliche Terrorismus dazu veranlassen, unsere kollektiven Vorstellungen davon, was Terrorismus ist, zu überdenken“, ergänzt sie. „Die Manosphäre darf nicht als etwas betrachtet werden, das plötzlich aus dem Nichts entstanden ist, und schon gar nicht als bloßes Produkt des Internets. Sie ist eine Konsequenz der patriarchalischen Ordnung, in der wir leben, der Klassenordnung, der rassistischen Ordnung, der ableistischen Ordnung, sie alle hängen miteinander zusammen. Der systemische Aspekt muss immer berücksichtigt werden, wenn wir über die Manosphäre sprechen, denn sie ist eine patriarchalische Ausprägung, aber sie hat eine bestimmte Form, gerade weil wir in einer Gesellschaft wie der heutigen leben […]. So sehr, dass die Manosphäre selbst fest mit anderen Gruppen verbunden ist, wie zum Beispiel der Alt Right”, erklärt Matteo Botto, Pädagoge und Autor des Artikels Swallowing and spitting out the red pill: young men, vulnerability, and radicalization pathways in the manosphere („Junge Männer, Verletzlichkeit und Radikalisierungswege in der Manosphäre”).

Auch muss hinzugefügt werden, dass die Diskurse des Maskulinismus, wie beispielsweise über die Krise der Männlichkeit, weit über den rechten oder rechtsextremen Rand hinausgehen und das gesamte politische Spektrum betreffen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wurde der maskulinistische Terrorismus bereits vor etwa dreißig Jahren identifiziert und dient nun als „Vorbild” für alle, die in Europa zur Tat schreiten.

Der 25-jährige Marc Lépine tötete am 6. Dezember 1989 14 Frauen an der Ecole polytechnique in Montréal: Zunächst trennte er die Männer von den Frauen und erklärte (zunächst in einem Brief und dann vor Ort) seinen „Hass auf Feministinnen”. 2014 tötete Elliot Rodger sechs Menschen (darunter drei Frauen) und verletzte 14 weitere im kalifornischen Isla Vista. Rodger wurde zu einer der Leitfiguren der Incel-Bewegung. Er hatte ein 140-seitiges Manifest und ein Video auf YouTube veröffentlicht, in dem er seine Absicht verkündete, „alle Blondinen, die [er] begehrt und die [ihn] abgelehnt hatten, zu massakrieren”. Im Jahr 2018 tötete Alek Minassian in Toronto 10 Menschen, vor allem Frauen, und sprach von einer „Rebellion der Incels”.

Und in Europa?

Das Phänomen wird auf europäischer Ebene zwar beobachtet, aber noch nicht vollständig erfasst. Der Jahresbericht von Europol über den Stand des Terrorismus in der Europäischen Union (2020) hebt in einem Abschnitt den Zusammenhang zwischen Antifeminismus und der rassistischen Verschwörungstheorie des „großen Austauschs” hervor.

Mit Ausnahme eines 2021 vom Radicalisation Awareness Network (RAN, heute Teil des EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation) veröffentlichten Berichts, der sich mit dem Incel-Phänomen befasst, schenken die Institutionen extremistischen maskulinistischen Bewegungen bisher keine besondere Aufmerksamkeit.

Europol-Sprecher Jan Op Gen Oorth erklärt, dass die Incel-Bewegung sich zu einer „besorgniserregenden Subkultur im größeren Kontext des gewalttätigen Extremismus in Europa” entwickelt hat. In den letzten Jahren habe sich diese Rhetorik „zunehmend radikalisiert und weist erhebliche Überschneidungen mit anderen extremistischen Strömungen auf, wie dem gewalttätigen Rechtsextremismus (Violent Right-Wing Extremism, VRWE), Frauenfeindlichkeit, Nihilismus und dem Akzelerationismus. Trotz dieser Überschneidungen kann das Phänomen jedoch nicht ausschließlich dem VRWE zugeordnet werden”. 

Es gibt mehrere Vorfälle in Europa, die zeigen, dass „die Radikalisierung der Incels nicht mehr nur auf das Internet und auf frauenfeindliche Äußerungen beschränkt ist, sondern sich zunehmend in physischer Gewalt manifestiert”, fügt Op Gen Oorth hinzu. 

Im Allgemeinen werden diese Phänomene meist als Nachrichtenereignisse behandelt.

In Spanien, erklärt El Confidencial, gab es zwar keine direkt mit der Incel-Bewegung in Verbindung stehenden Angriffe, doch gibt es Berichte von Strafverfolgungsbehörden und wissenschaftliche Untersuchungen, die vor ihrer potenziellen Gefahr warnen. Die Zunahme des antifeministischen Diskurses und die Normalisierung des Frauenhasses in einigen Jugendkreisen geben Anlass zu wachsender Sorge. Obwohl die Incels in Spanien nicht direkt in politischen Parteien agieren, wurde ihre Rhetorik von Akteuren der extremen Rechten, wie Vox, instrumentalisiert, insbesondere in Kampagnen, die sich an den „vergessenen Mann” wenden. Die Erzählung von der „Krise der Männlichkeit” und der Viktimisierung von Männern war ein fruchtbarer Boden, um die Sympathie von desillusionierten jungen Männern zu gewinnen, die frauenfeindliche Inhalte online konsumieren.

„Dies ermöglicht es ihnen, ihre Forderungen im Namen aller alleinstehenden Männer zu stellen. Aber ihre eigentliche Ideologie ist Lookismus. Sie glauben, dass sie „genetisch minderwertig“ seien und dass die Gesellschaft daher dafür zu sorgen hat, ihnen „genetisch überlegene Frauen“ zuzuweisen, damit sie die gleichen Rechte haben wie andere Männer”, fügt Lamy hinzu.

Das Gleiche gilt für Italien. Bis heute, so Torrisi, gab es in Italien keine Verbrechen, die offen mit der Incel-Bewegung in Verbindung stehen; dennoch wurden einige Taten nachträglich mit der Bewegung in Verbindung gebracht. Insbesondere der Doppelmord an Daniele De Santis und Eleonora Manta, die am 21. September 2020 in Lecce von Antonio De Marco getötet wurden. Der 21-jährige Mitbewohner von De Santis, hatte einen tiefen Hass auf das Paar entwickelt. Obwohl De Marco offenbar nie direkten Kontakt zu Plattformen oder Foren im Zusammenhang mit der „Manosphäre“ hatte, schrieb er Monate zuvor in sein Tagebuch: „Ich habe beschlossen, dass ich jemanden umbringen werde, wenn ich bis Ende des Jahres keine Freundin habe […]. Wenn das Schicksal nicht will, dass Daniele und andere Menschen sterben, dann muss es mir eine Freundin bringen, die mit mir zusammen sein will”. In Italien scheint De Marco von der Incel-Community als „Märtyrer” angesehen zu werden.

Auch der Doppelmord an Chiara Spatola und ihrem Freund Simone Sorrentino am 24. April 2025 in Volvera (Turin) wurde mit der Incel-Bewegung in Verbindung gebracht. Den Ermittler*innen zufolge war der Mörder, der Nachbar Andrea Longo, in das Mädchen verliebt und konnte ihre Zurückweisung nicht akzeptieren.

Außerdem verhaftete die italienische Polizei 2021 einen jungen Mann wegen Terrorismus. Unter anderem sagte dieser, dass er „ein Massaker während einer feministischen Demonstration” begehen wolle. Jüdische und kommunistische Frauen sind unsere Feinde. Moderne Frauen sind emotionslose Fleischpuppen, die ausgerottet werden müssen”.

„Wir sprechen hier von einer antifeministischen und frauenfeindlichen Rückkehr, die sowohl  online als auch offline stattfindet”, wobei das Internet „diese keineswegs neue Gewalt, verstärkt und verbreitet”, erklärt Silvia Semenzin, Forscherin für digitale Soziologie in Madrid, wo sie sich mit Fragen der geschlechtsspezifischen Gewalt und Frauenfeindlichkeit im Internet befasst. „Die Diskurse, die wir in der Manosphäre finden, unterscheiden sich nicht von denen der 1940er-Jahre oder von denen faschistischer Prägung.” Gewalt, so Semenzin weiter, „ist nichts anderes als die Folge eben dieser Kultur, in der Frauenfeindlichkeit normalisiert wird.”

🤝 Dieser Artikel wurde im Rahmen des PULSE-Projekts verfasst. Mitwirkende waren Lola García-Ajofrín und Ana Somavilla (El Confidencial, Spanien), Petra Dvořáková (Deník Referendum, Tschechische Republik) und Claudia Torrisi (Interview mit Silvia Semenzin und Matteo Botto).

Schätzen Sie unsere Arbeit?
 
Dann helfen Sie uns, multilingualen europäischen Journalismus weiterhin frei zugänglich anbieten zu können. Ihre einmalige oder monatliche Spende garantiert die Unabhängigkeit unserer Redaktion. Danke!

Weitere Kommentare anzeigen Ich werde Mitglied, um Kommentare zu übersetzen und Diskussionsbeiträge zu leisten

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema