Das norwegische Modell

Veröffentlicht am 20 April 2012

In den letzten Tagen wurden die norwegische Demokratie und der Rechtsstaat im Saal 250 des Osloer Justizpalastes auf die Probe gestellt. Anders Behring Breiviks Prozess, der am 16. April begann, stellt nämlich eine doppelte Herausforderung dar. Gleichzeitig kann er aber auch als Vorbild gelten.

Zunächst einmal war es für die Norweger eine Herausforderung, das Trauma des Attentats vom 22. Juli letzten Jahres erneut durchzugehen (77 Opfer in Oslo und auf der Insel Utøya) und Breiviks herablassende Haltung seit Beginn des Prozesses zu ertragen. Er zeigte in keiner Weise Reue für seine Gräueltat und versicherte, er würde immer wieder erneut so handeln.

Ihm wurde sogar das Recht eingeräumt, 75 Minuten lang die 13 Seiten seines Manifests vorzulesen, um Gründe für seine Handlung darzulegen. Seine Mitbürger, allen voran die Überlebenden und die Familien seiner Opfer, müssen ihren Rachegedanken stand halten, der Justiz vertrauen und die nötigen Antikörper entwickeln, damit Breivik keine Nachahmer findet.

Auch für die Europäer ist dieser Prozess mit seiner starken Medienpräsenz eine Herausforderung, denn der Ablauf des Verfahrens (Öffentlichkeit, Redefreiheit des Angeklagten) bietet seinen Ideen ein einmaliges Forum. In dem Manifest, das er vor dem Massaker im Internet veröffentlichte, schrieb Breivik, dass ein Prozess „eine einmalige Gelegenheit” biete, über Norwegen hinaus bekannt zu werden.

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Leider teilt eine erhebliche Zahl der Europäer seine Ansichten wie Islamophobie, Ausländerfeindlichkeit, Hass auf die Eliten, die Sozialdemokraten, die Liberalen und auf den Multikulturalismus. Selten hat man in Europa die Gelegenheit dazu, derartige Gedanken in einem Gericht so grenzenlos und unzensiert darzustellen, die dann auch noch urbi et orbi übertragen werden. In vielen Ländern werden derartige Äußerungen aufgrund ihres bösartigen, gewalttätigen und zur Hetze aufrufenden Charakters strafrechtlich verfolgt.

Am Folgetag des Massakers erklärte der Ministerpräsident Jens Stoltenberg, der zur selben Arbeiterpartei gehört wie die Jugendlichen, die auf der Insel Utøya ermordet wurden, dass die Antwort auf Breivik „mehr Öffnung und Demokratie“ sein müsse. „Es ist gut zu sehen, dass der Rechtsstaat funktioniert und dass die Gesellschaft nach vorne schaut,“ schrieb seinerseits Eskil Pedersen, einer der Überlebenden von Utøya am Vortag des Prozessbeginns.

Und genau darauf beruht das norwegische Vorbild: Eine demokratische, selbstbewusste Gesellschaft, die auf einem wirksamen Rechtsstaat aufbaut, fürchtet denjenigen nicht, der versucht, ihre Prinzipien in Frage zu stellen. Und auch seine Worte können ihr nichts anhaben, denn sie verfügt über legale Werkzeuge — und vor allem kulturelle — um sich davor zu schützen. Dies ist wahrscheinlich das Wichtigste, das wir hieraus lernen können.

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